Die Astronomie entwickelte sich in kurzer Zeit zu einer komplizierten Wissenschaft. Dadurch konnten die theoretischen Modelle genaue Prognosen zu den Gestirnverläufen liefern. Hier kann der Erfolg der neuen Methoden gemessen werden und die Überlegenheit zu den Vorhersagen von Laien ist offensichtlich. Eine gewisse Qualität der astronomischen Theorien ist nicht zu leugnen.
Doch interessanter als die geometrische Modellbildung ist für viele Menschen die Erklärung der Mechanismen, warum der Kosmos sich genau so verhält, wie wir es beobachten können. Die Güte dieser physikalischen Erklärungsansätze ist bei weitem schwerer zu bewerten. Zum einen müssen die wissenschaftlichen Methoden analysiert werden und zum anderen muss die Erkenntnismöglichkeit des Menschen generell hinterfragt werden.
Bereits vor den drei großen Athener Philosophen wurde über das, was man wissen kann, nachgedacht.
Die vielleicht erste bedeutsame Strömung der Erkenntnistheorie begann mit den Pythagoreern, einer philosophischen Gruppierung, die vom Mathematiker und Philosophen Pythagoras von Samos (570-510 v. Chr.) gegründet wurde.
Samos war zu dieser Zeit ein Schnittpunkt der westlichen und östlichen Kultur. Ein Zeugnis dafür waren gigantische Bauprojekte, wie ein Stollen durch einen großen Berg und ein mächtiger Damm, die mit der Kenntnis orientalischer Fertigkeiten gebaut werden konnten. Auch Pythagoras lernte von diesen Kulturen. Seine Wander- und Lernreise führte ihn in den Nahen Osten und nach Ägypten. Einiges deutet darauf hin, dass er seine mathematischen Kenntnisse dort erlernte. In Griechenland gründete er eine Bewegung, die ungefähr 200 Jahre bestand haben sollte. Von seinen Schriften und denen seiner direkten Schüler ist nichts erhalten geblieben. Daher sind die Aussagen über ihn oft unsicher und widerspruchsvoll. Dennoch lassen sich die Pythagoreer ruhigen Gewissens als Sekte[1] bezeichnen. Es war ein antiker Mysterienkult, mit viel Sinn für Geheimniskrämerei und Ritualen für Eingeweihte. Es gab eine Reihe von Vorschriften, wie Speisegebote, wozu das berüchtigte „Bohnentabu“ gehörte, dass den Verzehr dieser Hülsenfrüchte verbot, da – nach einigen Quellen – Pythagoras eine Abneigung gegen Bohnen hatte.
Wie es sich für eine Sekte gehört, wurde Pythagoras als Meister verehrt. Er übernahm die Rolle eines griechischen Scharmanen, der nach archaischer Tradition, magische Dinge vollbringen konnte. Einige Wunder, die er vollbrachte, sind überliefert. Es wird berichtet, wie er mit einem Eselsfell einen Krankheiten tragenden Wind abwehrte, die Daunische Bärin besänftigte, die zuvor einen Landstrich verwüstete und dass er einen Stier dazu brachte, nie wieder Bohnen zu verzehren.
Doch so skurril dies alles klingt, so waren die Pythagoreer eine wirkmächtige Gruppe, die es schaffte, die antike Kultur zu prägen; ja, sogar Einfluss auf die Forscher der Renaissance auszuüben.
In ihrem Denken stand die Zahl im Mittelpunkt. Pythagoras erkannte, dass es ein festes Verhältnis zwischen der Länge der Saite einer Leier und den Grundakkorden der Musik besteht. Es ist 1:2 für die Oktave, 2:3 für die Quint und 3:4 für die Quart. Diese und ähnliche Beobachtungen, die sich nicht nur auf Geometrie und Musik beschränken, sondern in allen Bereichen gemacht werden können, ließen darauf schließen, dass hinter den Naturerscheinungen eine spezielle Logik steht, die über die Zahlen zu erschließen wäre. Zahlen und Zahlenproportionen wären damit das höchste Prinzip des Kosmos und ein Ausdruck des Göttlichen.
Daher ist auch ihre Erkenntnistheorie mit der Mathematik verwoben. Die ersten Ideen und Prinzipien waren die der anschaulichen Mathematik. Sie sind jedem Menschen angeboren, werden also nicht durch die Sinne aufgenommen.
Das Wissen um die Zahlen wurde von den Pythagoreern in der Praxis eingesetzt. Jeder Zahl kam eine besondere Bedeutung zu. Nach den Philosophen Speusippos, Archytas und Philolaos finden sich beispielsweise folgende Zuweisungen:
Die 1 steht für Intelligenz. Die 2 steht für Meinung, die doppelseitig ist, also niemals eindeutig sein kann. Die 4 steht für die Gerechtigkeit, die 5 für die Ehe und die 7 für die kritische Zeit und lässt sich eventuell auf die Wochentage beziehen.
Den Zahlen wurde eine therapeutische Kraft zugesprochen. Daher wurden Silberplättchen angefertigt, auf denen magische Zahlenquadrate eingeritzt wurden.
Ein Pythagoreer der zweiten Generation, Eurythos, der ein Schüler des Philolaos war, ging sogar so weit, jedem Lebewesen eine spezifische Zahl zuordnen zu wollen. Dazu müssten die Bausteine gezählt werden, die nötig sind, um ein Wesen, egal ob Mensch oder Tier, bildlich darzustellen.
Ein unlösbares Problem für das pythagoreische Denken wurde die Entdeckung der irrationalen Zahlen. Theodor von Kyrene, der Mathematiklehrer von Platon, wies auf sie hin, als er die Irrationalität von Wurzeln entdeckte. So lässt sich die Wurzel von 2 nicht mit rationalen Zahlen, also ganzen Zahlen oder Brüchen, darstellen.[2] Das Widersprach dem Dogma der Pythagoreer, da die Anschauung als Basis des Wissens wegfiel.
Eine weitere Schwierigkeit des Erkennens wurde bereits zuvor von Heraklit aus Ephesos (520 v.Chr. – 460 v.Chr.) offengelegt.
Da seine Philosophie rätselhaft und schwer verständlich war, erhielt er den Beinamen „der Dunkle“. Ähnlich schwierig wie sein Schreibstil war auch der Umgang mit ihm. Er galt als hochmütig und verachtete einen Großteil der Menschen. Für einige Geistesgrößen seiner Zeit hatte er nur ruppige Worte übrig: „Vielwisserei lehrt keine Vernunft; sonst hätte sie Hesiod belehrt und Pythagoras, auch Xenophanes und Kekataios.“[3]
Der Misanthrop zog sich aus der Gesellschaft zurück und ernährte sich selbstgenügsam von Kräutern und Pflanzen. Als er an Wassersucht erkrankte, suchte er den Kontakt zu Ärzten. Doch der Legende nach blieb er auch dabei dunkel und drückte sich unverständlich aus: „die Sintflut muss in Trockenheit verwandelt werden“.
Da ihm daher kein Arzt helfen konnte, erdachte sich Heraklit selbst eine Heilmethode. Er ließ sich mit frischen Kuhfladen bedecken, die das Wasser aus dem Körper ziehen sollten. Doch seine Idee war nicht gut durchdacht. Der getrocknete Dung umschloss den Philosophen fest und ließ ihm keine Chance sich zu befreien. So starb Heraklit mit 60 Jahren in seiner selbst konstruierten Todesfalle.[4]
Sein Denken fand trotz dieses spektakulären Ablebens Anhänger. Er lehrte, dass alles in Bewegung sei. Alles steht in Wechselwirkung miteinander, alles ist relativ. Sein bekanntester Aphorismus lautet „In die gleichen Ströme steigen wir und steigen wir nicht; wir sind es und sind es nicht.“[5]
Heraklit hinterließ keine ausgearbeitete Erkenntnistheorie. Doch aus dem „alles fließt“ leiteten einige seiner Nachfolger ab, dass es kein vom Menschen unabhängiges Sein geben kann, das zu erkennen wäre.
Das lässt sich in 3 Punkten erläutern:
1. Da alles in Bewegung ist, kann es keine Konstanten geben. Es gibt kein Sein, sondern nur ein Werden.
2. Da es keine Konstanten gibt, verfügt kein Objekt über feste Eigenschaften. Alles ist relativ. Nicht nur das Objekt verändert sich im Verlaufe der Zeit, sondern auch das wahrnehmende Subjekt bleibt nicht dasselbe. Das bedeutet, dass ein Objekt nur für einen bestimmten Zeitpunkt und nur für ein bestimmtes Subjekt über diese bestimmten Eigenschaften verfügt.
3. Da nun weder die Objekte als auch die Subjekte über eine konstante Beschaffenheit verfügen, kann die Wahrnehmung einer Person nicht als wahr oder falsch bezeichnet werden.
Aus dem Chaos von Werden und Vergehen entsteht ein extremer Relativismus. Die Lösung ist äußerst unbefriedigend, da die Qualität der Meinungen doch augenscheinlich nicht gleich ist. Im Sturm möchte man das Schiff in den Händen eines erfahrenen Kapitäns wissen und nicht in denen eines Geflügelzüchters.
Der Sophist Protagoras (490 – 411 v. Chr.) fand eine Lösung für diesen Widerspruch. Er übernahm den relativistischen Gedanken von Heraklit. Auch für ihn gibt es kein objektives Sein und damit keine objektive Wahrheit. Jeder Mensch hat seine eigene Perspektive, die eine wahre Vorstellung liefert. Diese Idee verdichtet Protagoras mit der Aussage: „[…]der Mensch sei das Maß aller Dinge, der seienden, “wie” sie sind, der nichtseienden, “wie” sie nicht sind.“.[6]
Protagoras war ein Sophist und damit ein Weisheitslehrender. Würde er beim dem absoluten Relativismus stehen bleiben, würde es keinen Grund für seinen Beruf geben; denn was will er Wichtiges lehren, wenn alle Meinungen gleichwertig wären. Daher führt er einen zweiten Aspekt bei der Beurteilung von Vorstellungen ein. Alle Vorstellungen sind zwar wahr, aber einige sind besser und einige schlechter. In Bezug auf die Landwirtschaft kann ein Bauer eine bessere Stellungnahme abgeben, als ein Laie, in Bezug auf die Seefahrt hat der Kapitän eine wertvolle Vorstellung und in Bezug auf das Wissen der Sophist.
[1] Sekte kommt vom lateinischen „sequi“ und bedeutet übersetzt „folgen“. Daher ist der Begriff zunächst neutral und hat erst mit der Zeit seine negative Bedeutung erhalten.
[2] Ein Widerspruchsbeweis hierfür findet sich in Euklids X. Buch der Elemente.
[3] Heraklit: Fragmente, B40.
[4] Diese Anekdote wurde von Philosophiehistoriker Diogenes Laertios im 3. Jahrhundert niedergeschrieben.
[5] Heraklit: Fragmente, B49a.
[6] Platon: Theaitetos, 152a.
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