Faktenmassen

Mit Statistiken seine Meinung zu untermauern, ist eine ehrenwerte Vorgehensweise. Es zeigt, dass man sich zu einem Thema informiert hat und nicht ausschließlich aus dem Bauch heraus seine Thesen aufstellt.

Das Problem ist, wie wähle ich die richtigen Statistiken. Ein Beispiel für die Schwierigkeiten finden sich in dem verlinkten YouTube-Video.

Franziska möchte die Vorurteile gegen den Kapitalismus widerlegen. Ich werde mich nur auf Ihren 1. Punkt konzentrieren:

Vorwurf Nr. 1: Der Kapitalismus macht die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer. Diesen Satz höre ich ständig, wenn es um Wirtschaft geht. […] Das Problem daran ist, es stimmt nicht. Weltweit ist die Anzahl der Menschen, die in extremer Armut leben müssen, seit 1820 von 94% auf 9,6% im Jahr 2015 gesunken.

Die gute und korrekte Nachricht ist, dass extreme Armut prozentual immer weniger Menschen betrifft. Allerdings sehe ich hier nicht den Beweis, dass das zwingend mit dem Kapitalismus zusammenhängen muss. Die Analyse wäre sehr aufwendig. Franziska definiert Kapitalismus so, dass die Unternehmen nicht dem Staat gehören, dass Angebot und Nachfrage Produktion und Preise bestimmen und dass Unternehmen nach Gewinn streben. Betrachtet man die heutige Welt, gäbe es viele Länder, die schwer nach diesen Kriterien zuordenbar wären. Z.B. China lenkt seine Wirtschaft strategisch und besitzt direkt und indirekt wichtige Unternehmen. Aber auch wenn man heute China zu den kapitalistischen Staaten zählen würde, müsste man bei dem oben betrachteten Zeitraum, die historische Entwicklung zusätzlich unter die Lupe nehmen. [1]

Franziska bringt noch einen 2. Punkt. Dort könnte wieder Ähnliches wie zur ersten These angebracht werden, allerdings möchte ich hier den Blick auf etwas anderes richten:

Wie sieht es mit der Einkommensungerechtigkeit aus. Die gibt man mit dem sogenannten Gini-Koeffizienten an. Je höher der ist, desto größer die Ungleichheit der Einkommen. Bei einem Wert von 0 wäre das Einkommen unter allen Menschen exakt gleich verteilt. Bei einem Wert von 1 besitzt Einer alles und der ganze Rest gar nichts. Und dieser Wert ist seit den 1970er Jahren um 10%-Punkte gefallen. Das heißt, die Einkommen driften weltweit nicht auseinander sondern sie rücken näher zusammen. Was stimmt ist, die Reichen werden immer reicher, die Armen aber auch.

Das was sie sagt, ist richtig. Weltweit ist die Einkommensungleichheit zurückgegangen. Das liegt daran, dass die ärmeren Länder mittlerweile ein höheres Einkommensgefüge besitzen. Schaut man nun auf den Gini-Koeffizienten eines dieser Länder, kann es dennoch vorkommen, dass dort die Ungleichheit gestiegen ist. China wäre so ein Fall[2]. Ob nun für ein Land der weltweite oder der nationale Vergleich bedeutender ist, liegt sicher auch an der Situation, in der die Länder sich befinden.

Richten wir den Blick auf Deutschland, so kann man, je nach Wunsch, Fakten finden, die sowohl die Aussage untermauern, dass der Gini-Koeffizient gestiegen, als auch gesunken ist. Das lässt sich alleine durch die Auswahl des Zeitraums bewerkstelligen. In den letzten Jahren hat die Ungleichheit danach nicht zugenommen. Schaut man bis in die 90er-Jahre zurück, lässst sich ein großer Unterschied ausmachen.[3]

Die Gefahr besteht, dass man beim Analysieren solcher Daten schnell in eine gewisse Ratlosigkeit gerät. Und das ist ein Problem. Seit der Aufklärung gilt das eigenständige Denken als ein Ideal. Wir möchten nicht zu jeder Frage auf die Hilfe von Experten angewiesen sein, denen wir blind vertrauen müssen, sondern wir möchten in der Lage sein, selbstständig vernünftige Urteile zu bilden. Aber wie kann man das, wenn einen die Datenmengen der realen Welt erschlagen? Gibt es Heuristiken, die für derartige, komplizierte Fragestellungen eine Hilfe sein könnten?


[1]  Wer sich für diese Entwicklung interessiert, dem sei das China-Buch von Renate Dillmann empfohlen.

[2]  Frankfurter Allgemeine vom 14.1.19

[3]  Studie vom IW Köln.

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