Platon: Theaitetos

Kedumuc10, CC BY-SA 4.0

In diesem Klassiker der Erkenntnistheorie zeigt Sokrates seinen Gesprächspartnern auf, wie schwierig es ist, das Wesen des Wissens zu erfassen.

Aus: Platon – Sämtliche Werke. Band 2, Berlin [1940], S. 561-662. Übersetzung von Friedrich Schleiermacher.

Eukleides, Terpsion

Eukleides: Kommst du soeben erst, o Terpsion, oder bist du schon lange vom Lande hier?

Terpsion: Ziemlich lange schon. Auch habe ich dich gesucht auf dem Markte und mich gewundert, daß ich dich nicht finden konnte.

Eukleides: Ich war eben nicht in der Stadt.

Terpsion: Wo denn also?

Eukleides: Indem ich an den Hafen hinunterging, begegnete ich dem Theaitetos, der aus dem Lager vor Korinthos nach Athen gebracht ward.

Terpsion: Lebend oder tot?

Eukleides: Lebend, aber kaum noch. Denn schon an einigen Wunden befindet er sich übel; noch mehr aber setzt ihm die Krankheit zu, welche unter dem Heere herrscht.

Terpsion: Doch nicht die Ruhr?

Eukleides: Eben sie.

Terpsion: Welch ein Mann ist da in Gefahr!

Eukleides: Jawohl, ein edler und trefflicher, o Terpsion! Auch jetzt nur hörte ich noch einige ihn höchlich rühmen in bezug auf die Schlacht.

Terpsion: Das ist nichts Unglaubliches, sondern weit wunderbarer wäre es, wenn er sich nicht so bewiesen hätte. Jedoch, wieso ist er nicht hier in Megara eingekehrt?ukleides: Er eilte heimwärts. Denn gebeten habe ich ihn genug und ihm geraten, allein er wollte nicht. Wie ich ihn nun begleitet, habe ich im Zurückgehn wieder des Sokrates gedacht und ihn bewundert, wie weissagend er unter vielen andern auch von diesem gesprochen hat. Ich glaube, es war kurz vor seinem Tode, als er mit dem Theaitetos, der noch ein heranwachsender Jüngling war, bekannt ward, und nachdem er mit ihm zusammen gewesen und Gespräch gepflogen, große Freude hatte an seiner Natur. Da ich nun nach Athen kam, erzählte[563] er mir die Unterredungen, welche sie gehabt, welche auch sehr verdienen gehört zu werden, und sagte, es könne nicht ausbleiben, dieser müsse ein ausgezeichneter Mann werden, wenn er nur sein volles Alter erreichte.

Terpsion: Und ganz wahr hat er geredet, wie es scheint. Jedoch könntest du wohl erzählen, was für Unterredungen dies gewesen?

Eukleides: Beim Zeus, zum mindesten gewiß nicht so mündlich. Aber ich zeichnete mir gleich damals, als ich nach Hause kam, etwas darüber auf; hernach habe ich bei größerer Muße nachgesonnen und sie aufgeschrieben, und sooft ich nach Athen kam, erfragte ich vom Sokrates, wessen ich mich nicht recht erinnerte, und brachte es in Ordnung, wenn ich wieder hierher kam, so daß fast die ganze Unterredung nachgeschrieben ist.

Terpsion: Ganz recht. Auch sonst habe ich dies schon von dir gehört und wollte dich immer bitten, sie mir mitzuteilen, es ist aber bis jetzt dabei geblieben. Allein was hindert uns, sie jetzt durchzugehen? Auf alle Weise tut mir ohnedies not, mich auszuruhen, da ich vom Lande komme.

Eukleides: Auch ich habe doch den Theaitetos bis nach Erinus begleitet, so daß ich ebenfalls gar nicht ungern ruhte. So laß uns dann gehen, und indes wir der Ruhe pflegen, mag uns der Knabe vorlesen!

Terpsion: Wohlgesprochen!

Eukleides: Dieses hier also, Terpsion, ist das Buch. Ich habe aber das Gespräch solchergestalt abgefaßt, nicht daß Sokrates es mir erzählt, wie er es mir doch erzählt hat, sondern so, daß er wirklich mit denen redet, welche er als Unterredner nannte. Er nannte aber den Mathematiker Theodoros und den Theaitetos. Damit nämlich in dem geschriebenen Aufsatz die Nachweisungen zwischen dem Gespräch nicht beschwerlich fielen, wie wenn er selbst, Sokrates, geredet das »Da sprach ich« oder »Darauf sagte ich«, und von dem Antwortenden »Das gab er zu« und »Darin wollte er nicht beistimmen«, – deshalb habe ich geschrieben, als ob er unmittelbar mit jenen redete, mit Hinweglassung aller dieser Dinge.

Terpsion: Gar nicht übel, Eukleides.

Eukleides: So nimm denn das Buch, Knabe, und lies![564]

Sokrates, Theodoros, Theaitetos

Sokrates: Wenn mich die Kyrenaier besonders angingen, o Theodoros, so würde ich dich über sie, und wie es dort steht, befragen, ob es einige gibt unter den jungen Leuten dort, welche in der Mathematik oder in einer andern Wissenschaft Fleiß anwenden. Nun aber – denn ich liebe jene weniger als die hiesigen und trage ein besonderes Verlangen, zu wissen, welche von unsern Jünglingen wahrscheinlich einmal Ehre einlegen werden – also suche ich selbst dieses nach Möglichkeit zu erforschen und befrage darum auch andere, zu denen ich die Jünglinge gern sich gesellen sehe. Und dich umgeben nicht wenige, wie du es auch sonst verdienst, besonders aber wegen der Mathematik. Wenn dir also einer aufgestoßen ist, der Erwähnung verdient, so wünschte ich es wohl zu wissen.

Theodoros: Allerdings, Sokrates, darf ich dir wohl gern sagen und du wirst auch gern hören wollen, was für einen Jüngling ich unter euren Bürgersöhnen angetroffen. Denn wäre er etwa schön, so möchte ich wohl Furcht genug haben, es zu sagen, damit nicht jemand meinte, ich hege eine Leidenschaft für ihn. Nun aber – werde mir nur ja nicht böse! – ist er eben nicht schön, sondern er gleicht dir mit der aufgeworfenen Nase und den heraustretenden Augen; nur hat er diese Züge nicht so stark wie du. Dreist rede ich also, und so wisse denn, daß unter allen, mit denen ich jemals bekannt geworden, – und ich habe schon sehr viele um mich gehabt –, ich noch nie einen so bewunderungswürdig wohlgeartet angetroffen. Denn daß einer, welcher schnell auffaßt, wie schwerlich ein anderer, zugleich so ausgezeichnet gleichmütig ist und überdies beharrlich mehr als jeder andere, solche habe ich nicht geglaubt, daß es gebe, auch sehe ich nicht, daß es deren sonst gibt. Sondern die Scharfsinnigen wie dieser und Menschen von schnellem Verstände und gutem Gedächtnis pflegen auch zum Zorn sehr reizbar zu sein und werden hin und her gerissen wie Schiffe ohne Ballast, sind auch von Natur mehr heftig als beharrlich. Die Gesetzteren aber zeigen sich wiederum gewissermaßen träge zum Lernen und gar sehr vergeßlich. Dieser aber schreitet so leicht und sicher und mit Erfolg zu allen Kenntnissen und Untersuchungen, und mit solcher Ruhe, wie sich das Öl ganz geräuschlos[565] ausgießt, daß zu bewundern ist, wie er in diesem Alter dergleichen Dinge auf solche Art behandeln kann. Sokrates: Du gibst treffliche Botschaft! Aber wem gehört er an unter unsern Bürgern?

Theodoros: Gehört habe ich zwar den Namen, ich entsinne mich seiner aber nicht. Allein er ist unter denen, die hier herankommen, der mittlere. Denn eben hat er mit diesen seinen Freunden sich draußen gesalbt; nun aber scheinen sie, nachdem sie sich gesalbt, hierher zu kommen. Also sieh zu, ob du ihn kennst!

Sokrates: Ich kenne ihn: es ist der Sohn des Euphronios von Sunion, eines Mannes, Freund, gerade so, wie du diesen beschreibst, auch übrigens sehr wohl angesehen, und der ein großes Vermögen hinterlassen hat. Den Namen des Knaben aber weiß ich nicht.

Theodoros: Dessen Name ist Theaitetos. Das Vermögen indes haben seine Vormünder, glaube ich, ziemlich heruntergebracht. Dennoch aber ist auch in dem, was Geld betrifft, seine edle Gesinnung zu bewundern.

Sokrates: Du preisest ihn ja herrlich! So heiße ihn dann sich hierher zu uns niedersetzen!

Theodoros: Das soll geschehen. Theaitetos, hierher zum Sokrates!

Sokrates: Ja, auf alle Weise, Theaitetos, damit ich mich auch einmal beschaue, was für ein Gesicht ich wohl habe. Denn Theodoros sagt, es sei dem deinigen ähnlich. Jedoch wenn wir nun beide jeder eine Leier hätten und er sagte, sie wären gleichgestimmt: würden wir ihm das sogleich glauben, oder würden wir erst untersuchen, ob er denn auch ein Tonkundiger wäre und so etwas behaupten könne?

Theaitetos: Das würden wir untersuchen.

Sokrates: Also wenn wir ihn als einen solchen erfänden, würden wir ihm glauben; wenn er aber von dieser Kunst verlassen wäre, würden wir ungläubig bleiben?

Theaitetos: Richtig.

Sokrates: Nun aber, meine ich wenigstens, wenn wir über die Ähnlichkeit unserer Gesichtszüge gewiß sein wollen, werden wir wohl zusehen müssen, ob er auch ein Maler ist und also hierüber etwas behaupten kann oder nicht.

[566] Theaitetos: So scheint es mir.

Sokrates: Ist nun wohl Theodoros ein Maler?

Theaitetos: Nicht, daß ich wüßte.

Sokrates: Auch kein Mathematiker?

Theaitetos: Das freilich auf alle Weise, o Sokrates.

Sokrates: Etwa auch ein Sternkundiger, ein Rechner, ein Tonkundiger, und was sonst zu diesen Wissenschaften gehört?

Theaitetos: Ich denke wohl.

Sokrates: Wenn er also sagt, daß wir uns irgend körperlich ähnlich sind, er sage es nun lobend oder tadelnd, so ist wohl nicht viel darauf zu geben?

Theaitetos: Vielleicht nicht.

Sokrates: Wie aber, wenn er die Seele eines von uns der Tugend und Weisheit wegen lobte: sollte dann nicht einerseits, wer es hört, sich billig Mühe geben, den Gelobten betrachten zu können, dieser aber wiederum sich bereitwillig darstellen?

Theaitetos: Allerdings, o Sokrates.

Sokrates: So ist demnach, lieber Theaitetos, an dir die Reihe, dich darzustellen, an mir aber, dich zu beschauen. Denn wisse nur, daß Theodoros schon viele zwar gegen mich gelobt hat, Fremde sowohl als Bürger, noch keinen aber hat er jemals so gelobt, als dich jetzt eben.

Theaitetos: Das wäre ja herrlich, Sokrates! Aber sieh zu, daß er es nicht etwa im Scherz gesagt hat!

Sokrates: Das ist nicht die Art des Theodoros. Also nimm nur nicht das Eingestandene zurück unter dem Verwände, er redeim Scherz, damit er nicht genötigt werde, ordentlich Zeugnis abzulegen; denn es wird ihn dann gewiß niemand falschen Zeugnisses anklagen. Sondern bleibe lieber getrost bei deinem Eingeständnis!

Theaitetos: Wohl werde ich es so halten müssen, wenn du meinst.

Sokrates: So sage mir denn: Lernst du wohl bei dem Theodoros etwas von der Mathematik?

Theaitetos: O ja.

Sokrates: Auch von der Sternkunde und der Tonkunst und den Rechnungen?

Theaitetos: Ich befleißige mich wenigstens.

Sokrates: Auch ich, o Jüngling, bei diesem und anderen,[567] denen ich zutraue, daß sie sich auf etwas hiervon verstehen, Dennoch aber, wiewohl ich im übrigen ziemlich Bescheid weiß, habe ich Zweifel über eine Kleinigkeit, die ich wohl mit dir und diesen untersuchen möchte. Sage mir also: Heißt nicht Lernen dessen kundiger werden, was man lernt?

Theaitetos: Wie anders?

Sokrates: Und die Kundigen, glaube ich, sind doch durch Wissenschaft kundig?

Theaitetos: Ja.

Sokrates: Und das ist doch nichts anderes als Erkenntnis?

Theaitetos: Was denn?

Sokrates: Die Wissenschaft. Oder ist man nicht, wovon man Erkenntnis hat, dessen auch kundig?

Theaitetos: Wie sonst?

Sokrates: Also ist dies einerlei, Wissenschaft und Erkenntnis?

Theaitetos: Ja.

Sokrates: Dies ist nun eben, worüber ich zweifelhaft bin und was ich durch mich selbst nicht hinreichend ergründen kann: die Erkenntnis, was die wohl eigentlich nein mag. Sollten wir es wohl bestimmen können? Was sagt ihr? Wer von uns will es zuerst erklären? Wenn er aber fehlt, und so jedesmal wer fehlt, soll, wie es die Knaben beim Ballspiel nennen, Esel sitzen. Wer aber, ohne zu fehlen, den Sieg davonträgt, der soll unser König sein und uns zu beantworten aufgeben, was er will. Warum schweigt ihr? Ich werde doch nicht aus Redelust überlästig, Theodoros, indem ich es darauf anlege, daß ein Gespräch zwischen uns entstehe und wir einander freund und näher bekannt werden?

Theodoros: Keineswegs, Sokrates, kann das überlästig sein. Sondern heiße einen von den Jünglingen dir antworten, denn ich bin dieser Art zu reden ungewohnt, und mich etwa noch daran zu gewöhnen, habe ich nicht mehr die Jahre. Diesen aber steht es sehr wohl an, und sie würden nur um so mehr zunehmen. Denn in der Jugend, das ist wahr, kann man in allem zunehmen. Laß also, wie du angefangen hast, nicht ab vom Theaitetos, sondern befrage ihn!

Sokrates: Du hörst doch, Theaitetos, was Theodoros sagt, welchem du ja, glaube ich, nicht wirst ungehorsam sein wollen; auch würde es wohl dem Jüngeren nicht ziemen, einem[568] weisen Manne, wenn er etwas aufgibt, in solchen Dingen nicht zu gehorchen. – So sage denn gerade und dreist heraus: Was denkst du, daß Erkenntnis ist?

Theaitetos: Ich muß wohl, Sokrates, wenn ihr es doch gebietet. Denn auf jeden Fall, wenn ich auch fehle, werdet ihr es berichtigen.

Sokrates: Allerdings, sofern wir es vermögen.

Theaitetos: Ich glaube also, daß sowohl dasjenige, was jemand vom Theodoros lernen kann, Erkenntnisse sind, die Meßkunst nämlich und die andern, welche du jetzt eben genannt hast, als auch auf der andern Seite die Schuhmacherkunst und die Künste der übrigen Handwerker scheinen mir alle und jede nichts anders zu sein als Erkenntnis.

Sokrates: Gar offen und freigebig. Lieber, gibst du mir, um eins gefragt, vielerlei, und Mannigfaltiges statt des Einfachen.

Theaitetos: Wie? Was meinst du damit, Sokrates?

Sokrates: Vielleicht nichts; was ich aber meine, will ich dir erklären. Wenn du sagst »das Schuhmachern«, meinst du damit etwas anderes als die Erkenntnis von Verfertigung der Schuhe?

Theaitetos: Nichts anderes.

Sokrates: Und wenn du sagst »die Tischlerei«, meinst du dann etwas anderes als die Erkenntnis von Verfertigung hölzerner Gerätschaften?

Theaitetos: Auch dann nicht.

Sokrates: In beiden Fällen also bestimmst du, wovon ein jedes die Erkenntnis ist?

Theaitetos: Ja.

Sokrates: Das Gefragte aber war nicht dieses, wovon es Erkenntnis gäbe, noch auch, wievielerlei sie wäre. Denn wir fragten nicht in der Absicht, sie aufzuzählen, sondern um die Erkenntnisselbst zu begreifen, was sie wohl sein mag. Oder habe ich unrecht?

Theaitetos: Allerdings ist es ganz richtig.

Sokrates: Erwäge auch dieses: Wenn uns jemand etwas ganz Gemeines, das erste beste, fragte, etwa nach dem Lehm, was der wohl wäre, und wir antworteten ihm, es gäbe Lehm für die Töpfer, und Lehm für die Puppenmacher, und Lehm für die Ziegelstreicher, – ob wir uns nicht lächerlich machten?

Theaitetos: Vielleicht wohl.

[569] Sokrates: Zuerst nämlich schon, weil wir glaubten, der Fragende könne nun aus unserer Antwort die Sache verstehen, wenn wir doch wieder sagten, der Lehm, mögen wir nun hernach hinzusetzen der Puppenmacher oder welches anderen Handwerkers. Oder glaubst du, daß jemand eine besondere Bezeichnung eines Dinges versteht, von dem er nicht weiß, was es ist?

Theaitetos: Auf keine Weise.

Sokrates: So versteht also auch Erkenntnis von Schuhen nicht, wer überhaupt nicht weiß, was Erkenntnis ist.

Theaitetos: Freilich nicht.

Sokrates: Also auch was Schuhmachen ist oder irgend eine andere Kunst, versteht der nicht, der nicht weiß, was Erkenntnis ist.

Theaitetos: Freilich nicht.

Sokrates: Es ist also eine lächerliche Antwort von dem, welcher gefragt wird, was Erkenntnis ist, wenn er darauf durch den Namen irgend einer Kunst antwortet. Denn er antwortet durch eine Erkenntnis von etwas, ohne hiernach gefragt worden zu sein.

Theaitetos: So scheint es.

Sokrates: Dann auch, da er konnte schlicht und kurz antworten, beschreibt er einen unendlichen Weg. So z.B. auch bei der Frage nach dem Lehm konnte er ganz schlicht und einfach sagen, Erde mit Feuchtigkeit gemischt wäre Lehm; für wen aber der Lehm wäre, das konnte er übergehen.

Theaitetos: Leicht, o Sokrates, erscheint es nun. Du magst aber wohl nach etwas Ähnlichem fragen, wie uns neulich in unseren Beschäftigungen vorgekommen ist, mir und hier deinem Namensgenossen, dem Sokrates.

Sokrates: Was doch war das?

Theaitetos: Von den Seiten der Vierecke zeichnete uns Theodoros etwas vor, indem er uns von der des dreifüßigen und fünffüßigen bewies, daß sie als Länge nicht meßbar wären durch die einfüßige. Und so ging er jede einzeln durch bis zur siebzehn füßigen; bei dieser hielt er inne. Uns nun fiel so etwas ein: da der Seiten unendlich viele zu sein schienen, wollten wir versuchen, sie zusammenzufassen in eins, wodurch wir diese alle bezeichnen könnten.

[570] Sokrates: Habt ihr auch so etwas gefunden?

Theaitetos: Ich denke wenigstens; betrachte du es nur auch!

Sokrates: So sprich!

Theaitetos: Wir teilten alle Zahlen insgesamt in zwei Teile. Diejenigen, welche entstehen können durch Gleiches gleichvielmal genommen, nannten wir, mit der Gestalt des Viereckes sie vergleichend, viereckige und gleichseitige.

Sokrates: Sehr gut.

Theaitetos: Die aber zwischen diesen, wozu auch drei und fünf gehören, und jede, welche nicht kann aus gleichem gleichvielmal genommen entstehen, sondern nur aus einer größeren Zahl wenigermal oder einer kleineren mehrmal genommen, welche also immer von einer größeren und einer kleineren Seite eingefaßt werden, diese nannten wir, mit der länglichen Gestalt sie vergleichend, längliche Zahlen.

Sokrates: Vortrefflich. Aber nun weiter!

Theaitetos: Alle Linien nun, welche ein Viereck bilden von gleichseitiger Zahl in der Fläche, nannten wir Längen; welche aber eins von ungleichseitiger Zahl bilden, diese nannten wir Kräfte, weil nämlich sie selbst als Längen nicht durch gleiches Maß mit jenen können gemessen werden, wohl aber die Flächen, welche sie hervorzubringen die Kraft haben. Ein Ähnliches findet nun statt bei den körperlichen Zahlen.

Sokrates: So vortrefflich als möglich, ihr Kinder! Nun wird Theodoros gewiß nicht in die Strafe des falschen Zeugnisses verfallen.

Theaitetos: Doch aber, o Sokrates, kann ich, was du von der Erkenntnis fragst, nicht so beantworten wie das von den Längen und Kräften, obwohl du, wie es mir wenigstens scheint, etwas Ähnliches suchst, so daß Theodoros doch wieder Unrecht zu haben scheint.

Sokrates: Wieso? Wenn er dich nun deines Laufens wegen gelobt und gesagt hätte, er habe noch nie unter den jungen Leuten einen so Schnellfüßigen angetroffen, und wenn du hernach beim Wettlauf von einem völlig Ausgebildeten und sehr Schnellen überwunden würdest, – würdest du deshalb glauben, daß er dich minder mit Recht gelobt habe?

Theaitetos: Nein, das nicht.

Sokrates: Und glaubst du, daß die Erkenntnis, so wie ich es[571] jetzt meinte, zu finden eine Kleinigkeit ist und nicht vielmehr unter die gar schwierigen Aufgaben gehört?

Theaitetos: Beim Zeus, unter die allerschwierigsten, glaube ich.

Sokrates: Sei nur gutes Mutes deinetwegen und glaube, daß Theodoros wohl recht gehabt hat! Bestrebe dich aber, wie von andern Dingen, so besonders von der Erkenntnis die Erklärung zu finden, was sie eigentlich ist!

Theaitetos: Sofern es nur am Bestreben liegt, soll sie wohl ans Licht kommen.

Sokrates: So komm, denn du hast schon sehr gut vorgezeichnet, und versuche nur, deine Antwort wegen jener Seiten der Vierecke nachahmend, so wie du diese, so viele es auch sind, unter einen Begriff zusammengefaßt hast, so auch die vielerlei Erkenntnisse durch eine Erklärung zu bezeichnen!

Theaitetos: Wisse nur, Sokrates, ich habe oft versucht, dieses herauszufinden, da ich die von dir herumgehenden Fragen hörte; aber ich kann weder mich selbst überreden, daß ich etwas Genügendes ausgedacht hätte, noch höre ich irgend einen andern die Sache so, wie du es forderst, erklären. Ebensowenig aber kann ich jemals ablassen, darauf zu sinnen.

Sokrates: Du hast eben Geburtsschmerzen, lieber Theaitetos, weil du nicht leer bist, sondern schwanger gehst.

Theaitetos: Das weiß ich weiter nicht; wie es mir aber ergeht, das habe ich dir gesagt.

Sokrates: Also du Lächerlicher hast wohl niemals gehört, daß ich der Sohn einer Hebamme bin, einer sehr berühmten und ehrwürdigen, der Phainarete?

Theaitetos: Das habe ich wohl schon gehört.

Sokrates: Etwa auch, daß ich dieselbe Kunst ausübe, hast du gehört?

Theaitetos: Das keineswegs.

Sokrates: Wisse dann: dem ist also. Verrate mich aber nicht damit gegen die andern: denn es weiß niemand von mir, Freund, daß ich diese Kunst besitze. Da es nun die Leute nicht wissen, so sagen sie mir auch dieses zwar nicht nach, wohl aber, daß ich der wunderlichste aller Menschen wäre und alle zum Zweifeln brächte. Gewiß hast du das auch gehört?

Theaitetos: Vielfältig.

[572] Sokrates: Soll ich dir davon die Ursache sagen?

Theaitetos: Allerdings.

Sokrates: Überlege dir nur recht alles von den Hebammen, wie es um sie steht, so wirst du leichter merken, was ich will. Denn du weißt doch wohl, daß keine, solange sie noch selbst empfängt und gebärt, andere entbindet; sondern nur die, welche selbst nicht mehr fähig sind zu gebären, tun es.

Theaitetos: So ist es allerdings.

Sokrates: Das soll, wie sie sagen, von der Artemis herrühren, weil dieser, einer Nichtgebärenden, dennoch die Geburtshilfe zuteil geworden. Nun hat sie zwar den ganz Unfruchtbaren nicht verleihen können, Geburtshelferinnen zu sein, weil die menschliche Natur zu schwach ist, um eine Kunst zu erlangen in Dingen, deren sie ganz unerfahren ist; wohl aber hat sie diese Gabe denen, die des Alters wegen nicht mehr gebären, beigelegt, um doch der Ähnlichkeit mit ihr selbst einen Vorzug einzuräumen.

Theaitetos: Das scheint annehmlich.

Sokrates: Ist also wohl auch das annehmlich und notwendig, daß, ob eine schwanger ist oder nicht, besser von den Geburtshelferinnen erkannt wird als von andern?

Theaitetos: Gar sehr.

Sokrates: Ja es können auch die Hebammen durch Arzneimittel und Zaubersprüche die Wehen erregen und, wenn sie wollen, sie auch wieder lindern und den Schwergebärenden zur Geburt helfen, oder auch, wenn diese beschlossen haben, sich des Kindes zu entledigen, können sie es abtreiben, solange es noch ganz klein ist.

Theaitetos: So ist es.

Sokrates: Hast du auch das schon von ihnen vernommen, daß sie ebenfalls die geschicktesten Freiwerberinnen sind, indem sie gründlich zu unterscheiden verstehen, was für eine Frau sich mit was für einem Manne verbinden muß, um die vollkommensten Kinder zu erzielen?

Theaitetos: Das habe ich noch nicht so gewußt.

Sokrates: So wisse denn, daß sie sich hiermit noch mehr wissen, als mit dem Nabelschnitt. Überlege auch nur: Glaubst du, daß die Pflege nebst Einsammlung der Früchte des Erdbodens und dann wiederum die Einsicht, welchem Boden[573] man jegliches Gesäme und Gewächs anvertrauen muß, zu einer und derselben Kunst gehören oder zu verschiedenen?

Theaitetos: Nein, sondern zu derselben.

Sokrates: Bei den Frauen aber glaubst du, daß dieses eine andere, und das Einsammeln wieder eine andere Kunst ist?

Theaitetos: Das ist wenigstens nicht wahrscheinlich.

Sokrates: Wohl nicht, sondern nur wegen des unrechtlichen und unkünstlerischen Zusammenführens der Männer und Frauen, welches man das Kuppeln nennt, enthalten sich die Hebammen als ehrbare Frauen auch des Freiwerbens, aus Furcht, sie möchten um dieser Kunst willen in jenen Verdacht geraten. Denn eigentlich steht es den wahren Geburtshelferinnen auch allein zu, auf die rechte Art Ehen zu stiften.

Theaitetos: Offenbar.

Sokrates: So viel also hat es mit den Hebammen auf sich; weniger aber doch als mit meinem Spiel. Denn bei den Frauen kommt es nicht vor, daß sie größtenteils zwar echte Kinder gebären, bisweilen aber auch Mondkälber, und daß beides schwierig wäre zu unterscheiden. Denn wäre dies der Fall, so würde es gewiß die schönste und größte Kunst der Hebammen sein, zu unterscheiden, was etwas Rechtes ist, und was nicht. Oder glaubst du nicht?

Theaitetos: Das glaube ich wohl.

Sokrates: Von meiner Hebammenkunst nun gilt übrigens alles, was von der ihrigen; sie unterscheidet sich aber dadurch, daß sie Männern die Geburtshilfe leistet und nicht Frauen, und daß sie für ihre gebärenden Seelen Sorge trägt und nicht für Leiber. Das Größte aber an unserer Kunst ist dieses, daß sie imstande ist zu prüfen, ob die Seele des Jünglings Mißgestaltetes und Falsches zu gebären im Begriff ist, oder Gebildetes und Echtes. Ja auch hierin geht es mir eben wie den Hebammen: ich gebäre nichts von Weisheit, und was mir bereits viele vorgeworfen, daß ich andere zwar fragte, selbst aber nichts über irgend etwas antwortete, weil ich nämlich nichts Kluges wüßte zu antworten, darin haben sie recht. Die Ursache davon aber ist diese: Geburtshilfe leisten nötigt mich der Gott, erzeugen aber hat er mir gewehrt. Daher bin ich selbst keineswegs etwa weise, habe auch nichts dergleichen aufzuzeigen als Ausgeburt meiner eigenen Seele. Die aber mit mir umgehen,[574] zeigen sich zuerst zwar zum Teil gar sehr ungelehrig; hernach aber, bei fortgesetztem Umgange, machen alle, denen es der Gott vergönnt, wunderbar schnelle Fortschritte, wie es ihnen selbst und andern scheint; und dieses offenbar ohne jemals irgend etwas etwa von mir gelernt zu haben, sondern nur selbst aus sich selbst entdecken sie viel Schönes und halten es fest; die Geburtshilfe indes leisten dabei der Gott und ich. Dies erhellt hieraus: Viele schon haben, dies verkennend und sich selbst alles zuschreibend, mich aber verachtend, oder auch selbst von andern überredet, sich früher als recht war von mir getrennt und nach dieser Trennung dann teils infolge schlechter Gesellschaft nur Fehlgeburten getan, teils auch das, wovon sie durch mich entbunden worden, durch Verwahrlosung wieder verloren, weil sie die mißgestalteten und unechten Geburten höher achteten als die rechten; zuletzt aber sind sie sich selbst und andern gar unverständig vorgekommen, von welchen einer Aristeides, der Sohn des Lysimachos, war, und viele andere mehr. Wenn solche dann wiederkommen, meines Umgangs begehrend, und wunder was darum tun, hindert mich doch das Göttliche, was mir zu widerfahren pflegt, mit einigen wieder umzugehen; andern dagegen wird es vergönnt, und diese machen wieder Fortschritte. Auch darin ergeht es denen, die mit mir umgehen, wie den Gebärenden: sie haben nämlich Wehen und wissen sich nicht zu lassen bei Tag und Nacht, weit ärger als jene. Und diese Wehen kann meine Kunst erregen sowohl als stillen. So ist es demnach mit diesen beschaffen. Bisweilen aber, o Theaitetos, wenn einige mir gar nicht recht scheinen schwanger zu sein, – solchen, weil ich weiß, daß sie meiner gar nicht bedürfen, bin ich ein bereitwilliger Freiwerber, und (mit Gott sei es gesprochen!) ich treffe es zur Genüge, wessen Umgang ihnen vorteilhaft sein wird, wie ich denn ihrer schon viele dem Prodikos abwendig gemacht habe, viele auch andern weisen und gottbegabten Männern. Dieses habe ich dir, Bester, deshalb so ausführlich vorgetragen, weil ich Vermutung habe, daß du, wie du es auch selbst meinst, etwas in dir trägst und Geburtsschmerzen hast. So übergib dich also mir, als dem Sohn einer Geburtshelferin und auch selbst der Geburtshilfe Kundigen, und was ich dich frage, das beeifere dich, so gut du nur kannst, zu beantworten! Und wenn ich bei der Untersuchung etwas,[575] was du sagst, für ein Mondkalb und nichts Echtes erfunden habe, also es ablöse und wegwerfe, so erzürne dich darüber nicht, wie die Frauen es bei der ersten Geburt zu tun pflegen. Denn schon viele, mein Guter, sind so gegen mich aufgebracht gewesen, wenn ich ihnen eine Posse abgelöst habe, daß sie mich ordentlich hätten beißen mögen, und wollen nicht glauben, daß ich das aus Wohlmeinen tue, weil sie weit entfernt sind einzusehen, daß kein Gott jemals den Menschen mißgünstig ist, und daß auch ich nichts dergleichen aus Übelwollen tue, sondern mir nur eben keineswegs verstattet ist. Falsches gelten zu lassen und Wahres zu unterschlagen. – Versuche also noch einmal von Anfang an, o Theaitetos, zu sagen, was Erkenntnis ist! Daß du aber nicht kannst, sage nur niemals! Denn so Gott will und du wacker bist, wirst du es wohl können.

Theaitetos: Wenn du freilich, Sokrates, solchergestalt zuredest, wäre es schändlich, nicht auf alle Weise mutig zu sagen, was einer eben zu sagen hat. Mir also scheint, wer etwas erkennt, dasjenige wahrzunehmen, was er erkennt; und wie es mir jetzt erscheint, ist Erkenntnis nichts anderes als Wahrnehmung.

Sokrates: Gut und wacker, Jüngling! So muß sich deutlich machen, wer etwas erklärt. Wohlan, laß uns nun dieses gemeinschaftlich betrachten, ob es eine rechte Geburt ist oder ein Windei! Wahrnehmung, sagst du, sei Erkenntnis?

Theaitetos: Ja.

Sokrates: Und gar keine schlechte Erklärung scheinst du gegeben zu haben von der Erkenntnis, sondern die, welche auch Protagoras gibt; nur daß er dieses nämliche auf eine etwas andere Weise ausgedrückt hat: Er sagt nämlich, der Mensch sei das Maß aller Dinge, der seienden, wie sie sind, der nichtseienden, wie sie nicht sind. Du hast dies doch gelesen!

Theaitetos: Oftmals habe ich es gelesen.

Sokrates: Nicht wahr, er meint dies so: Wie ein jedes Ding mir erscheint, ein solches ist es auch mir, und wie es dir erscheint, ein solches ist es wiederum dir. Ein Mensch aber bist du sowohl als ich.

Theaitetos: So meint er es unstreitig.

Sokrates: Wahrscheinlich doch wird ein so weiser Mann nicht Torheiten reden. Laß uns ihm also nachgehen! Wird[576] nicht bisweilen, indem derselbe Wind weht, den einen von uns frieren, den andern nicht; Oder den einen wenig, den andern sehr stark?

Theaitetos: Jawohl.

Sokrates: Sollen wir nun in diesem Falle sagen, daß der Wind an und für sich kalt ist oder nicht kalt; Oder sollen wir dem Protagoras glauben, daß er dem Frierenden ein kalter ist, dem Nichtfrierenden nicht?

Theaitetos: So wird es wohl sein müssen.

Sokrates: Und so erscheint er doch jedem von beiden?

Theaitetos: Freilich.

Sokrates: Dieses »erscheint« ist aber eben das Wahrnehmen?

Theaitetos: So ist es.

Sokrates: Erscheinung also und Wahrnehmung ist dasselbe in Absicht auf das Warme und alles, was dem ähnlich ist? Denn wie ein jeder es wahrnimmt, so scheint es für ihn auch zu sein.

Theaitetos: Das leuchtet ein.

Sokrates: Wahrnehmung geht also wohl immer auf das Seiende und ist untrüglich, wenn sie ja Erkenntnis ist.

Theaitetos: So scheint es.

Sokrates: Nun, so war etwa, bei den Chariten, Protagoras gar überweise und hat die Sache zwar uns nur durch vielen Nebel dunkel angedeutet, seinen Schülern aber im geheimen das Rechte gesagt?

Theaitetos: Wie doch, o Sokrates, meinst du dies?

Sokrates: Ich will es dir sagen, – es ist gar keine schlechte Rede –, daß nämlich gar nichts ein an und für sich Bestimmtes ist, und daß du keinem Dinge mit Recht welche Eigenschaft auch immer beilegen kannst; vielmehr, wenn du etwas groß nennst, wird es sich auch klein zeigen, und wenn du etwas schwer nennst, wird es sich auch leicht zeigen, und so gleicherweise in allem, daß eben nichts weder ein Gewesenes ist noch auch irgendwie beschaffen; sondern durch Bewegung und Veränderung und Vermischung wird alles untereinander nur, wovon wir sagen, daß es ist, indem wir es damit nicht richtig bezeichnen; denn niemals ist eigentlich irgend etwas, sondern immer nur wird es. Und hierüber mögen denn der Reihe nach alle Weisen, den Parmenides ausgenommen, einig sein, Protagoras[577] sowohl als Herakleitos und Empedokles, und so auch von den Dichtem die Meister von beiden Dichtungsarten, Epicharmos der komischen und Homeros der tragischen; denn wenn dieser sagt:

Daß ich den Vater Okeanos schau’ und Tethys die Mutter,

will er andeuten, daß alles entsprungen ist aus dem Fluß und der Bewegung. Oder scheint er dir nicht dieses zu meinen?

Theaitetos: Allerdings auch mir.

Sokrates: Wer dürfte nun wohl gegen ein solches Heer und seinen Anführer Homeros etwas bestreiten, ohne sich lächerlich zu machen?

Theaitetos: Leicht ist es nicht, o Sokrates.

Sokrates: Gewiß nicht, Theaitetos. Zumal auch dies noch hinlängliche Beweise sind für diese Behauptung, daß nämlich allemal das, was zu sein scheint, und das Werden die Bewegung verursacht, das Nichtsein aber und den Untergang die Ruhe. Denn Wärme und Feuer, welche dann wieder die andern Dinge erzeugen und in Ordnung halten, werden selbst erzeugt durch Umschwung und Reibung, diese aber sind Bewegung. Oder sind dies nicht die Entstehungsarten des Feuers? Theaitetos; Dies sind sie freilich.

Sokrates: Ferner entsproßt ja auch das Geschlecht der Lebenden aus eben den Ursachen.

Theaitetos: Wie anders?

Sokrates: Und wie? Der ganze Zustand des Leibes, wird er nicht durch Ruhe und Trägheit zerrüttet, durch Leibesübungen aber und Bewegungen im ganzen wohl erhalten?

Theaitetos: Ja.

Sokrates: Und der Zustand der Seele ebenso, pflegt sie nicht durch Lernen und Fleiß, welches Bewegungen sind, Kenntnisse zu erwerben und festzuhalten und so besser zu werden, durch die Ruhe aber, welche sich in Gedankenlosigkeit und Trägheit zeigt, nichts zu lernen nicht nur, sondern auch das Gelernte zu vergessen?

Theaitetos: Ganz gewiß.

Sokrates: Das Gute also ist Bewegung für Seele und Leib, und umgekehrt das Gegenteil davon?

Theaitetos: So scheint es.

[578] Sokrates: Soll ich dir nun auch noch die Windstillen anführen und was dem ähnlich ist, wie überall die Ruhe Fäulnis und Zerstörung bewirkt, das Gegenteil aber Erhaltung? Und über dies alles soll ich dir, nun noch den letzten Stein hinzutragend, beweisen, daß unter der goldenen Kette Homeros nichts anderes versteht als die Sonne und also andeutet, solange der gesamte Weltkreis in Bewegung ist und die Sonne, so lange sei auch alles und bleibe wohlbehalten bei Göttern und Menschen; wenn aber dieses einmal wie gebunden stillstände, so würden alle Dinge untergehen und, wie man sagt, das Unterste zuoberst gekehrt werden?

Theaitetos: Mir, o Sokrates, scheint er das anzudeuten, was du sagst.

Sokrates: Denke dir also. Bester, die Sache so: zuerst in Beziehung auf die Augen, was du weiße Farbe nennst, daß dies nicht selbst etwas Besonderes ist außerhalb deiner Augen noch auch in deinen Augen, und daß du ihm ja keinen Ort bestimmst, denn sonst wäre es schon, wenn es bestimmt irgendwo wäre, und beharrte, und würde nicht bloß im Entstehen.

Theaitetos: Aber wie denn?

Sokrates: Folgen wir nur dem eben vorgetragenen Satz, daß nichts an und für sich ein Bestimmtes ist, und es wird uns deutlich werden, daß Schwarz und Weiß und jede andere Farbe aus dem Zusammenstoßen der Augen mit der zu ihr gehörigen Bewegung entstanden ist, und was wir jedesmal Farbe nennen, wird weder das Anstoßende sein noch das Angestoßene, sondern ein dazwischen jedem besonders Entstandenes. Oder möchtest du behaupten, daß jede Farbe, eben wie sie dir erscheint, auch einem Hunde oder irgend einem andern Tiere erscheinen werde?

Theaitetos: Beim Zeus, das möchte ich nicht.

Sokrates: Aber wie? Erscheint einem andern Menschen irgend etwas gerade ebenso wie dir? Bist du dessen recht gewiß, oder vielmehr dessen, daß etwas nicht einmal dir selbst immer als dasselbe erscheine, da du niemals ganz auf dieselbe Weise dich verhältst?

Theaitetos: Mich dünkt dieses eher als jenes.

Sokrates: Also wenn das Gemessene oder Berührte groß oder rot oder warm wäre, so könnte es nicht dadurch, daß es auf[579] einen andern träfe, ein anderes werden, indem es sich selbst gar nicht veränderte. Wenn aber wiederum das Messende oder Berührende jedes von diesen wäre, so könnte es nicht, wenn ein anderer Gegenstand herankommt oder dem vorigen etwas begegnet, indem jedoch ihm selbst nichts widerfährt, dennoch ein anderes werden. Denn jetzt, Freund, werden wir genötigt, wunderbare und lächerliche Dinge getrost zu behaupten, wie Protagoras und jeder, der dasselbe wie er behaupten will, uns vorwerfen würde.

Theaitetos: Wie doch, und was für Dinge meinst du?

Sokrates: Nimm nur ein kleines Beispiel, und du wirst alles wissen, was ich meine: Sechs Bohnen, wenn du vier dagegen hältst, werden mehr sein als die vier, nämlich noch ein halbesmal soviel; wenn aber zwölf, dann weniger, nämlich die Hälfte, und man darf nicht einmal leiden, daß etwas anderes behauptet werde. Oder möchtest du es leiden?

Theaitetos: Ich keineswegs.

Sokrates: Wie nun, wenn dich Protagoras oder ein anderer fragte: »Ist es wohl möglich, Theaitetos, daß etwas größer oder mehr werde auf eine andere Weise, als daß es zugenommen hat?« Was wirst du antworten?

Theaitetos: Wenn ich, o Sokrates, antworten soll, was mir in Beziehung auf diese Frage allein richtig scheint, so werde ich sagen, es ist nicht möglich; wenn ich aber in Beziehung auf die vorige Frage antworten soll, so werde ich, um mich zu hüten, daß ich nichts Widersprechendes sage, wohl antworten, es wäre gar wohl möglich.

Sokrates: Sehr gut, Freund, bei der Hera, und ganz göttlich! Jedoch wie mir scheint, wenn du antwortest, es sei möglich, wird dir jenes aus dem Euripides begegnen, es wird uns die Zunge freilich unwiderlegt sein, die Seele aber nicht unwiderlegt.

Theaitetos: Ganz wahr.

Sokrates: Wenn wir, du und ich, also von den gewaltigen Weisen wären, die schon alles durchgeprüft haben in ihrem Gemüt, so würden wir von nun an immer weiter nur zum Zeitvertreib einander versuchen und, auf sophistische Art einen ebensolchen Kampf beginnend, jeder den Reden des andern mit den seinigen ausweichen. Nun wir aber nur schlichte Menschen[580] sind, werden wir doch zuerst die Sache an sich selbst betrachten wollen, wie das wohl beschaffen ist, was wir behaupten: ob es untereinander stimmt, oder vielleicht nichts weniger als das.

Theaitetos: Auf jede Weise würde ich meinesteils dieses letztere wollen.

Sokrates: Auch ich gewiß. Da es sich nun so verhält, können wir ganz gelassen in voller Muße die Sache wieder von vorn untersuchen, ohne verdrießlich zu werden, sondern recht aufrichtig uns prüfend, was doch diese Erscheinungen uns eigentlich sind, von denen wir nun die erste untersuchen, und, wie ich wenigstens glaube, sagen werden, daß niemals irgend etwas weder mehr noch weniger werde, weder der Masse noch der Zahl nach, so lange, als es sich selbst gleich ist. Nicht so?

Theaitetos: Ja.

Sokrates: Zweitens auch wohl, daß etwas, dem nichts zugesetzt noch auch abgenommen wird, niemals weder wachse noch schwinde, sondern immer gleich bleibe.

Theaitetos: Ganz offenbar.

Sokrates: Nicht auch das dritte, nämlich was vorher nicht war, daß dieses doch auch nachher unmöglich sein könne, ohne geworden zu sein und zu werden?

Theaitetos: So scheint es freilich.

Sokrates: Diese drei Behauptungen nun streiten, glaube ich, in unserer Seele mit einander, wenn wir jenes von den Bohnen aussagen, oder wenn wir behaupten, daß ich, der ich diese bestimmte Größe habe, ohne weder zu wachsen noch das Gegenteil zu erleiden binnen Jahresfrist, jetzt zwar größer bin als du, der Jüngere, hernach aber kleiner, da doch ich von meiner Masse nichts verloren habe, sondern nur du an der deinigen gewonnen hast. Denn ich bin ja hernach, was ich vorher nicht war, ohne es geworden zu sein. Denn ohne werden ist unmöglich geworden sein, und da ich nichts von meiner Masse eingebüßt habe, wurde ich ja niemals kleiner. Und mit tausend und abertausend Sachen verhält es sich ebenso, wenn wir dieses wollen gelten lassen. Du kommst doch wohl mit, Theaitetos? Wenigstens scheinst du mir nicht unerfahren in diesen Dingen zu sein.

[581] Theaitetos: Wahrlich, bei den Göttern, Sokrates, ich wundere mich ungemein, wie doch dieses wohl sein mag; ja bisweilen, wenn ich recht hineinsehe, schwindelt mir ordentlich.

Sokrates: Theodoros, du Lieber, urteilt eben ganz richtig von deiner Natur. Denn gar sehr ist dies der Zustand eines Freundes der Weisheit, die Verwunderung; ja es gibt keinen andern Anfang der Philosophie als diesen, und wer gesagt hat, Iris sei die Tochter des Thaumas, scheint die Abstammung nicht übel getroffen zu haben. Aber hast du schon inne, wie diese Dinge, zufolge dessen, was, wie wir sagen, Protagoras behauptet, sich dennoch wirklich so verhalten können, oder noch nicht?

Theaitetos: Noch nicht recht, glaube ich.

Sokrates: So wirst du es mir wohl Dank wissen, wenn ich dir von der Meinung dieses Mannes oder vielmehr vieler berühmter Männer den rechten verborgenen Sinn aufspüren helfe.

Theaitetos: Wie sollte ich dir das nicht Dank wissen, und zwar sehr vielen?

Sokrates: Sieh dich aber wohl um und habe acht, daß uns nicht einer von den Uneingeweihten zuhöre! Dies sind aber die, welche – von nichts anderem glaubend, daß es sei, als von dem, was sie recht herzhaft mit beiden Händen greifen können, – das Handeln und das Werden und alles Unsichtbare gar nicht mit unter dem, was ist, wollen gelten lassen.

Theaitetos: Das sind ja verstockte und widerspenstige Menschen, Sokrates, von denen du redest.

Sokrates: Jene freilich, Kind, sind sehr roh. Viel preiswürdiger aber sind diese, deren Geheimnisse ich dir jetzt mitteilen will. Der Anfang aber, an welchem auch, was wir vorhin sagten, alles hängt, ist bei ihnen der, daß alles Bewegung ist, und anderes außerdem nichts, von der Bewegung aber zwei Arten, beide der Zahl nach unendlich, deren eine ihr Wesen hat im Wirken, die andere im Leiden, und aus dem Begegnen und der Reibung dieser beiden gegen einander entstehen Erzeugnisse, der Anzahl nach auch unendliche, je zwei aber immer Zwillinge zugleich, das Wahrnehmbare und die Wahrnehmung, die immer zugleich hervortritt und erzeugt wird mit dem Wahrnehmbaren. Die Wahrnehmungen nun führen uns Namen wie diese: Gesicht, Gehör, Geruch, Erwärmung und[582] Erkältung, auch Lust und Unlust werden sie genannt, Begierde und Abscheu, und andere gibt es noch, unbenannte unzählbare, sehr viele auch noch benannte. Die Arten des Wahrnehmbaren aber sind je eine einer von jenen an- und miterzeugt, dem mancherlei Sehen die mancherlei Farben, dem Hören gleichermaßen die Töne, und so den übrigen Wahrnehmungen das übrige ihnen verwandte Wahrnehmbare. Was besagt uns nun diese Erzählung, Theaitetos, in Beziehung auf das Vorige? Merkst du es wohl?

Theaitetos: Noch nicht ganz, o Sokrates.

Sokrates: So sieh zu, ob wir es irgendwie vollenden! Sie will nämlich sagen, daß alles dieses, wie wir auch sagten, sich bewegt. In dieser Bewegung aber findet sich Schnelligkeit und Langsamkeit. Soviel nun langsam ist, das hat seine Bewegung an demselben Ort und in Beziehung mit dem Nahen, und erzeugt auf diese Weise. Das auf diese Weise Erzeugte aber ist langsamer. Was aber schnell ist, das hat seine Bewegung in Beziehung mit Entfernterem und erzeugt so, und das so Erzeugte ist schneller; denn es geht im Räume fort, und in diesem Fortgehen besteht die Natur seiner Bewegung. Wenn nun ein Auge und ein solches anderes ihm Angemessenes zusammentreffen und die Röte erzeugen nebst der ihr mitgeborenen Wahrnehmung, (was beides nicht wäre erzeugt worden, wenn eines von jenen beiden auf ein anderes getroffen hätte), dann wird, indem beide sich bewegen, nämlich das Sehen auf seiten der Augen, die Röte aber auf seiten des die Farbe miterzeugenden Gegenstandes, auf der einen Seite das Auge erfüllt mit der Gesichtswahrnehmung und sieht alsdann und ist geworden nicht eine Gesichtswahrnehmung, sondern ein sehendes Auge; auf der anderen Seite wird das die Farbe Miterzeugende erfüllt mit der Röte und ist geworden auch wiederum nicht die Röte, sondern ein Rotes, sei es nun Holz oder Stein oder welchem Dinge sonst begegnet, mit dieser Farbe gefärbt zu sein. Ebenso ist nun alles übrige, das Harte und Warme und alles andere, auf dieselbe Art zu verstehen, daß es nämlich an und für sich nichts ist, wie wir auch vorher sagten, sondern daß in dem einander Begegnen alles allerlei wird vermöge der Bewegung. Denn auch, daß das Wirkende etwas ist und das Leidende wiederum etwas, läßt sich an einem nicht fest und sicher bemerken: denn[583] weder ist etwas ein Wirkendes, ehe es mit einem Leidenden zusammentrifft, noch ein Leidendes, ehe es mit dem Wirkenden zusammentrifft; ja auch, was mit dem einen zusammentreffend ein Wirkendes wird, zeigt sich, wenn es auf ein anderes fällt, als ein Leidendes. So daß diesem allen zufolge, wie wir von Anfang ansagten, nichts an und für sich ein Bestimmtes ist, sondern immer nur wird für irgend ein anderes, das Sein aber überall ausgestoßen werden muß, wiewohl wir es auch jetzt eben aus Gewohnheit und Ungeschicktheit gar oft und viel zu gebrauchen genötigt waren, und man darf doch nach der Rede der Weisen weder das Etwas zugeben, noch das Wesen, noch Meins, noch Dieses, noch Jenes, noch irgend eine andere Bezeichnung, die feststeht; sondern der Natur gemäß muß man nur reden von Werdendem und Gewirktem, Vergehendem und Verändertem, so daß, wenn jemand etwas beharrlich setzt durch seine Rede, ein solcher sehr leicht zuschanden zu machen ist. So muß man sowohl von dem einzelnen reden als auch von dem aus vielem Zusammengefaßten, durch welches Zusammenfassen man Mensch sagt und Stein und jegliches einzelne Tier und seine Gattung. Ist dir dies nun angenehm, Theaitetos, und gefällt es dir, daß du davon kosten möchtest?

Theaitetos: Ich weiß nicht recht, Sokrates. Denn auch von dir kann ich nicht innewerden, ob du es sagst als deine Meinung, oder ob du mich nur versuchst.

Sokrates: Erinnerst du dich nicht mehr. Lieber, daß ich meinesteils dergleichen gar nicht weiß, auch nichts als das meinige vorbringe, sondern ganz und gar unfruchtbar bin in dergleichen? Dir aber will ich Geburtshilfe leisten, und deshalb bespreche ich dich und lege dir zu kosten vor von allerlei Weisheit, bis ich endlich auch deine Meinung mit ans Licht bringe. Ist sie aber ans Licht gebracht, dann will ich auch gleich sehen, ob sie sich als ein Windei oder als eine gesunde Geburt zeigen wird. Also halte nur aus und sei gutes Mutes und antworte dreist und tapfer, was dich dünkt über das, wonach ich eben frage!

Theaitetos: So frage denn!

Sokrates: Erkläre dich also noch einmal, ob es dir recht ist, daß gar nicht sein, sondern immer nur werden soll,[584] [Gutes und Schönes] und alles, was wir eben durchgegangen sind?

Theaitetos: Freilich scheint mir, wenn ich dich die Sache so erörtern höre, alles ganz erstaunlich gegründet zu sein, und daß es so müsse gedacht werden, wie du es auseinandersetzest.

Sokrates: So wollen wir denn auch das nicht zurücklassen, was noch übrig ist davon. Es ist aber noch übrig das von den Träumen und Krankheiten, besonders auch dem Wahnsinn, und was man nennt sich verhören oder sich versehen oder sonst eine Sinnentäuschung. Denn du weißt wohl, daß es das Ansehen hat, als könne durch alle diese Fälle einstimmig der Satz widerlegt werden, den wir jetzt eben durchgegangen sind, und als wären auf alle Weise unsere Wahrnehmungen falsch in diesen Fällen, und als fehlte viel daran, daß, was einem jeden erscheint, dasselbe auch sei, sondern ganz im Gegenteil, als sei nichts von dem, was erscheint.

Theaitetos: Vollkommen recht, o Sokrates.

Sokrates: Was für eine Ausrede, Jüngling, bleibt also dem noch übrig, welcher sagt, Wahrnehmung sei Erkenntnis, und was jedem erscheine, das sei auch so dem, welchem es erscheint?

Theaitetos: Es fehlt mir der Mut, Sokrates, zu gestehen, daß ich nicht weiß, was ich sagen soll, weil du mich nur vorhin gescholten, als ich dies sagte. Und doch könnte ich in der Tat nicht bestreiten, daß die Wahnsinnigen oder die Träumenden nicht falsche Vorstellungen haben, wenn jene Götter zu sein glauben, diese aber geflügelt und sich im Traume als fliegend vorkommen.

Sokrates: Merkst du auch nicht diesen Einwurf dagegen, besonders was Wachen und Schlafen betrifft?

Theaitetos: Welchen doch?

Sokrates: Den du, meine ich, oft gehört haben wirst, wenn man nämlich die Frage aufwirft, was für ein Kennzeichen jemand wohl angeben könnte, wenn einer fragte, jetzt gleich gegenwärtig, ob wir nicht schlafen und alles, was wir vorstellen, nur träumen, oder ob wir wachen und wachend uns unterreden?

Theaitetos: Und wahrlich, Sokrates, es ist sehr schwierig, durch was für ein Kennzeichen man es beweisen soll. Denn es folgt ganz genau auf beiden Seiten dasselbe. Denn was wir[585] jetzt gesprochen haben, das können wir ebensogut im Traume zu sprechen glauben; und wenn wir im Traume über etwas zu sprechen meinen, so ist ganz wunderbar, wie ähnlich dies jenem ist.

Sokrates: Du siehst also, daß das Bestreiten nicht schwer ist, wenn sogar darüber gestritten werden kann, was Schlaf ist und was Wachen. Und da die Zeit des Schlafens der des Wachens ziemlich gleich ist und die Seele in jedem von diesen Zuständen behauptet, daß die ihr jedesmal gegenwärtigen Vorstellungen auf alle Weise wahr sind, so behaupten wir eine gleiche Zeit hindurch einmal, daß das eine, dann wieder ebenso, daß das andere wirklich ist, und beharren beidemal gleich fest auf unserer Meinung.

Theaitetos: Allerdings.

Sokrates: Verhält es sich nun nicht mit Krankheiten und mit dem Wahnsinn ebenso, bis auf die Zeit, daß die nicht gleich ist?

Theaitetos: Ganz richtig.

Sokrates: Und wie? Soll das Wahre aus der Länge und Kürze der Zeit bestimmt werden?

Theaitetos: Lächerlich wäre das ja auf vielerlei Weise!

Sokrates: Hast du aber etwas anderes Sicheres, woran du zeigen kannst, welche von diesen Vorstellungen die wahren sind?

Theaitetos: Mich dünkt, nicht.

Sokrates: So höre denn von mir, was diejenigen darüber sagen würden, welche behaupten, was jeder vorstellt, sei dem, der es vorstellt, auch wahr. Sie werden aber, wie ich glaube, uns so befragen: Was ganz und gar von einem andern verschieden ist, o Theaitetos, kann das wohl irgend einerlei Vermögen mit jenem haben? Und daß wir also ja nicht annehmen, daß das, wovon die Frage ist, in einer Hinsicht doch einerlei ist mit jenem und nur in einer andern verschieden, sondern nur, daß es ganz verschieden ist!

Theaitetos: Es ist ja unmöglich, daß eines mit einem andern einerlei, sei es nun Vermögen oder sonst etwas habe, wenn es ganz und gar davon verschieden ist. Sokrates: Muß man nicht auch zugeben, daß ein solches notwendig unähnlich ist?

[586] Theaitetos: Mir scheint es wenigstens.

Sokrates: Wenn sich also ereignet, daß etwas einem ähnlich wird oder unähnlich, es sei nun sich selbst oder einem andern, – werden wir nicht, wenn es ähnlich wird, sagen, daß es einerlei, wenn aber unähnlich, daß es verschieden wird?

Theaitetos: Notwendig.

Sokrates: Haben wir nun nicht vorher gesagt, daß es vielerlei und unzähliges Wirkende gebe, und Leidendes auch?

Theaitetos: Das haben wir.

Sokrates: Und auch, daß eines mit einem andern und dann wieder mit einem andern sich vermischend nicht beidemal einerlei, sondern Verschiedenes erzeugen wird?

Theaitetos: Allerdings.

Sokrates: So laß uns denn von dir und mir und allem auf dieselbe Weise sagen: Der kranke Sokrates und der gesunde Sokrates, sollen wir dies jenem ähnlich nennen oder unähnlich?

Theaitetos: Meinst du dieses Ganze, den kranken Sokrates, jenem Ganzen, dem gesunden Sokrates?

Sokrates: Ganz recht hast du verstanden: so meine ich es.

Theaitetos: Unähnlich dann.

Sokrates: Auch verschieden etwa auf eben die Art wie unähnlich?

Theaitetos: Notwendig.

Sokrates: Auch von dem Schlafenden also, und was wir sonst jetzt angeführt haben, wirst du das nämliche behaupten?

Theaitetos: Ich gewiß.

Sokrates: Wird also nicht jedes seiner Natur nach etwas Wirkende, wenn es den gesunden Sokrates trifft, mit einem verschiedenen zu tun haben, und wenn es den kranken trifft, wieder mit einem verschiedenen?

Theaitetos: Wie sollte es nicht?

Sokrates: Und Verschiedenes werden wir also in beiden Fällen zusammen erzeugen, ich, der Leidende, und jenes, das Wirkende?

Theaitetos: Wie sonst?

Sokrates: Wenn nun ich, der Gesunde, Wein trinke, so erscheint er mir lieblich und süß?

Theaitetos: O ja.

Sokrates: Es haben nämlich alsdann nach dem zuvor Eingeräumten[587] das Wirkende und das Leidende erzeugt die Süßigkeit und die Wahrnehmung, beide zugleich schwebend. Und zwar hat die Wahrnehmung, welche auf der Seite des Leidenden ist, seine Zunge wahrnehmend gemacht: die Süßigkeit aber, welche auf der Seite des Weines um ihn schwebt, hat den Wein für die gesunde Zunge süß zu sein und zu scheinen gemacht.

Theaitetos: So waren wir allerdings vorher übereingekommen.

Sokrates: Wenn er aber den Kranken trifft, hat er dann nicht zuerst der Wahrheit nach nicht denselben getroffen, da er zu einem dem Vorigen Unähnlichen gekommen ist?

Theaitetos: Ja.

Sokrates: Verschiedenes also erzeugen wiederum ein solcher Sokrates und das Trinken des Weines, an der Zunge nämlich die Wahrnehmung der Bitterkeit, an dem Wein aber die werdende und schwebende Bitterkeit, und machen diesen nicht zur Bitterkeit, sondern zu einem bitteren, mich aber nicht zur Wahrnehmung, sondern zu einem Wahrnehmenden.

Theaitetos: Ganz offenbar.

Sokrates: Also werde sowohl ich nichts anderes jemals werden, solange ich so wahrnehme, denn nur eine andere Wahrnehmung von etwas anderem macht den Wahrnehmenden zu einem veränderten und anderen; als auch jenes, das auf mich Wirkende, wird niemals, sobald es mit einem anderen zusammentrifft, eben dasselbe erzeugend, ein ebensolches werden. Denn mit anderem muß es, anderes erzeugend, ein Verändertes werden.

Theaitetos: So ist es.

Sokrates: Ebensowenig aber werde ich für mich selbst ein solcher, noch jenes für sich selbst ein solches werden.

Theaitetos: Natürlich nicht.

Sokrates: Notwendig also muß sowohl ich, wenn ich ein Wahrnehmender werde, es von etwas werden, denn ein Wahrnehmender zwar, aber ein nichts Wahrnehmender zu werden, das ist unmöglich; als auch jenes muß, wenn es süß oder bitter oder etwas dergleichen wird, es notwendig für einen werden; denn süß, aber für niemanden süß zu sein, ist unmöglich.

Theaitetos: Allerdings muß es so sein.

Sokrates: Es bleibt also, glaube ich, übrig, daß wir für einander[588] etwas sind oder werden, je nachdem man nun »sein« oder »werden« sagen will, da unser Sein zwar die Notwendigkeit verknüpft, aber weder mit irgend einem andern noch mit uns selbst. Also bleibt übrig, daß es für uns unter einander verknüpft sei. So daß, mag es nun jemand Sein nennen, er sagen muß, es sei für etwas oder von etwas, oder in Beziehung auf etwas; oder nenne er es Werden, dann ebenso. Daß aber etwas an und für sich etwas entweder sei oder werde, das darf er weder selbst behaupten, noch, wenn ein anderer dies behauptet, es annehmen, wie die Rede, welche wir durchgegangen sind, zeigt.

Theaitetos: So ist es allerdings, Sokrates.

Sokrates: Nicht wahr also, wenn das mich zu etwas Machende für mich ist und nicht für einen anderen, so nehme auch nur ich es wahr, ein anderer aber nicht?

Theaitetos: Wie anders?

Sokrates: Wahr also ist mir meine Wahrnehmung, denn sie ist die meines jedesmaligen Seins. Ich also bin der Richter, nach dem Protagoras, dessen sowohl, was mir ist, wie es ist, als dessen, was mir nicht ist, wie es nicht ist.

Theaitetos: So scheint es.

Sokrates: Wie also sollte ich, da ich untrüglich bin und nie fehle, in meiner Vorstellung von dem, was ist oder wird, dasjenige nicht auch erkennen, was ich wahrnehme?

Theaitetos: Es läßt sich auf keine Weise anders denken.

Sokrates: Vortrefflich also hast du gesprochen, daß die Erkenntnis nichts anderes ist als Wahrnehmung; und es fällt in eines zusammen, daß nach dem Homeros, Herakleitos und ihrem ganzen Stamm alles sich wie Ströme bewegt, daß nach dem Protagoras, dem sehr weisen, der Mensch das Maß aller Dinge ist, und daß nach dem Theaitetos, wenn dieses sich so verhält, die Wahrnehmung Erkenntnis wird. Nicht wahr, o Theaitetos, wir sagen doch, daß dies Kindlein dein neugebornes ist, und von mir geholt? Oder wie meinst du?

Theaitetos: Notwendig so, Sokrates.

Sokrates: Dieses haben wir recht mit Mühe endlich geboren, was es auch nun eigentlich sein mag. Nach der Geburt aber müssen wir nun das wahre Umtragen im Kreise damit vornehmen, indem wir durch weitere Untersuchung erforschen,[589] ob nicht das Geborene, vielleicht ohne daß wir es wußten, nicht wert ist, auferzogen zu werden, sondern ein leeres Windei. Oder glaubst du, dein Kind müsse man auf alle Fälle auferziehen und nie aussetzen? Oder wirst du es doch ertragen, wenn du siehst, daß es die Prüfung nicht besteht, und nicht allzu verdrießlich werden, wenn es dir jemand, unerachtet es deine erste Geburt ist, wegnimmt?

Theodoros: Er wird es ertragen, unser Theaitetos, o Sokrates, denn er ist gar nicht hartnäckig. Also, bei den Göttern, sage, ob es sich nun wieder nicht so verhält? Sokrates: Offenbar hast du großes Wohlgefallen an solchen Reden, Theodoros, und bist sehr gut, daß du glaubst, ich wäre gleichsam ein Schatzkasten von Behauptungen und dürfte ohne Mühe nur eine herausnehmend sagen, daß sich dies wiederum nicht so verhielte. Wie es aber wirklich damit zugeht, merkst du nicht, daß nämlich keine dieser Behauptungen von mir ausgeht, sondern immer von dem, der sich mit mir unterredet, ich aber weiter nichts weiß als nur dieses wenige, nämlich die Rede eines anderen. Weiseren aufzufassen und gehörig zu behandeln. Und so will ich es auch jetzt mit diesem versuchen, nicht aber selbst etwas sagen. Theodoros: Gut berichtigt, Sokrates, und tue nur so!

Sokrates: Weißt du also, Theodoros, was mich wundert von deinem Freunde Protagoras?

Theodoros: Was doch?

Sokrates: Das übrige hat mir alles sehr wohl gefallen, was er sagt, daß, was jedem scheint, für ihn auch ist; nur über den Anfang seiner Rede wundere ich mich, daß er nicht gleich seine »Wahrheit« so beginnt, das Maß aller Dinge sei das Schwein oder der Affe, oder was man noch unter allem, was Wahrnehmung hat, Unvernünftigeres nennen könnte, damit er recht hochsinnig und herabwürdigend begönne zu uns zu reden, indem er zeigte, daß wir zwar ihn bewunderten als einen Gott seiner Weisheit wegen, er aber doch nichts besser wäre an Einsicht als ein halberwachsener Frosch, geschweige denn als irgend ein anderer unter den Menschen. Oder was wollen wir sagen, Theodoros? Denn wenn einem jeden wahr sein soll, was er mittelst der Wahrnehmung vorstellt, und weder einer den Zustand des andern besser beurteilen kann, noch auch die Vor-[590] stellung des einen der andere besser imstande ist in Erwägung zu ziehen, ob sie wahr oder falsch ist, sondern, wie schon oft gesagt ist, jeder nur seine eignen Vorstellungen hat und diese alle richtig und wahr sind: wie soll denn wohl, o Freund, nur Protagoras weise sein, so daß er mit Recht auch von andern zum Lehrer angenommen wird, und das um großen Lohn, wir dagegen unwissender, so daß wir bei ihm in die Schule gehn müssen, da doch jeder Mensch das Maß seiner eignen Weisheit ist? Und wie sollen wir nicht glauben, daß Protagoras dies bloß im Scherz vorbringt? Was nun gar mich betrifft und meine Kunst der Geburtshilfe, so schweige ich ganz davon, welches Gelächter wir billig erregen. Ich glaube aber, es wird auch dasselbe sein mit dem ganzen Geschäft des wissenschaftlichen Unterredens. Denn gegenseitig einer des andern Vorstellungen und Meinungen in Betrachtung ziehen und zu widerlegen suchen, wenn sie doch alle richtig sind, – ist das nicht eine langweilige und überlaute Kinderei, wenn anders die »Wahrheit« des Protagoras wirklich wahr ist und nicht nur scherzend aus dem verborgenen Heiligtum des Buches herausgeredet hat?

Theodoros: Der Mann, o Sokrates, ist mein Freund, wie du oben sagtest. Darum möchte ich weder, daß Protagoras durch meine Eingeständnisse widerlegt würde, noch auch möchte ich dir gegen meine eigene Meinung zuwider sein. Deshalb nimm dir nur wieder den Theaitetos vor; schien er dir doch auch vorher sehr aufmerksam zu folgen.

Sokrates: Würdest du denn auch, wenn du nach Lakedaimon kämest, Theodoros, zu den Fechtschulen, und wenn du dort die andern entblößt sähest – einige darunter überdies gar nicht vorzügliche Leute –, dennoch lieber dich nicht neben ihnen auskleiden und ihnen deine Gestalt zeigen?

Theodoros: Warum meinst du, daß ich das nicht allerdings vorziehn würde, wenn sie es mir nur vergönnten und sich überreden ließen? So wie ich jetzt euch zu überreden hoffe, mich zuschauen zu lassen und mich, der ich schon ungelenker bin, nicht in den Übungsplatz hineinzuziehen, sondern lieber mit einem Jüngeren und Gelenkigeren zu ringen.

Sokrates: Wenn es dir so recht ist, Theodoros, ist es mir auch nicht zuwider, wie man zu sagen pflegt. So muß ich denn wieder zu dem weisen Theaitetos gehn. – Sage also, Theaitetos,[591] zuerst, was wir jetzt eben durchgegangen sind, ob du dich nicht ebenfalls verwunderst, daß sich auf einmal zeigt, du seist nichts schlechter in der Weisheit als einer unter den Menschen oder auch unter den Göttern? Oder glaubst du, daß das Maß des Protagoras weniger von den Göttern gilt als von den Menschen?

Theaitetos: Beim Zeus, keineswegs, und was du jetzt fragst, verwundert mich freilich sehr. Denn als wir vorher erörterten, weshalb sie wohl sagten, was jedem erscheine, das sei auch für den, dem es erscheine, fand ich, daß dieses vortrefflich gesagt wäre; nun aber ganz im Gegenteil ist es schnell umgeschlagen.

Sokrates: Du bist eben jung, lieber Sohn, deshalb achtest du schneller auf verfängliche Reden und gibst ihnen Eingang. Denn Protagoras oder ein anderer für ihn würde hierauf sagen: »Ihr trefflichen Knaben und Greise sitzt hier zusammen und führt verfängliche Reden, indem ihr die Götter mit hineinzieht in die Sache, welche ich gänzlich beiseite setze im Reden sowohl als im Schreiben, ob sie sind oder nicht sind, und was auf den großen Haufen Eindruck machen würde, wenn er es hörte, dergleichen redet ihr, als wäre es nun etwas Schreckliches, wenn jeder Mensch um gar nichts besser wäre in der Weisheit als irgend ein Tier. Beweise aber und notwendige Schlußfolgen führt ihr gar nicht eine einzige an, sondern begnügt euch mit dem Scheinbaren, welches doch weder Theodoros noch irgend ein anderer Mathematiker bei seiner Mathematik anwenden würde, oder er wäre auch gar nichts wert.« So überlegt nun, du und Theodoros, ob ihr in so wichtigen Dingen solchen Reden Beifall geben wollt, die nur aus Überredungskünsten und Wahrscheinlichkeiten zusammengesetzt sind.

Theaitetos: Daß dieses billig wäre, Sokrates, würdest weder du noch auch wir sagen wollen.

Sokrates: Auf eine andere Weise also, wie es scheint, müssen wir die Sache betrachten, wie du behauptest und Theodoros.

Theaitetos: Allerdings auf eine andere.

Sokrates: Laßt uns denn auf diese Weise sehen, ob wohl Erkenntnis und Wahrnehmung einerlei ist oder verschieden: denn darauf ging doch unsere ganze Rede aus, und deshalb haben wir so vielerlei Wunderliches aufgeführt. Nicht wahr?

Theaitetos: Allerdings.[592]

Sokrates: Sollen wir also eingestehen, was wir durch Sehen wahrnehmen oder durch Hören, daß wir alles dieses auch zugleich verstehen? Zum Beispiel: Ausländer, deren Sprache wir noch nicht gelernt haben, – sollen wir leugnen, daß wir die hören, wenn sie darin sprechen? Oder sollen wir sagen, daß wir sie nicht nur hören, sondern auch das verstehen, was sie sagen? Ebenso, wenn wir Buchstaben noch nicht kennen, doch aber unsere Augen auf sie richten, sollen wir behaupten, daß wir sie nicht sehen, oder daß wir sie auch verstehen, wenn wir sie doch sehen?

Theaitetos: Dasselbe an ihnen, o Sokrates, was wir sehen und hören, werden wir auch zu verstehen behaupten, daß wir nämlich von letzteren die Gestalt und Farbe sehen und auch erkennen, von jenen aber die Höhe und Tiefe hören und auch wissen; daß wir aber, was von beiden die Sprachlehrer und Dolmetscher lehren, weder wahrnehmen durch das Sehen und Hören, noch also auch verstehen.

Sokrates: Vortrefflich, Theaitetos, und es wäre nicht recht, dir dieses zu bestreiten, damit dir auch der Mut wachse! Aber betrachte auch dieses andere, welches herbeikommt, und sieh zu, wie wir es uns abwehren wollen!

Theaitetos: Was denn?

Sokrates: Dieses, wenn jemand fragte, ob es wohl möglich wäre, daß einer etwas, wovon er einmal Erkenntnis erlangt und wovon er die Erinnerung noch unverloren bei sich bewahrt, dann, wann er sich erinnert, ebendas doch nicht erkennte, dessen er sich erinnert. Ich bin aber, wie ich merke, sehr weitläufig, da ich doch nur fragen wollte, ob jemand, was er erfahren, indem er sich dessen erinnert, doch nicht weiß. Theaitetos: Und auf welche Weise, Sokrates? Dies wäre ja ein Wunder, was du da sagst.

Sokrates: Bin ich denn etwa irre? Sieh doch zu! Sagst du nicht, das Sehen sei ein Wahrnehmen und jeder Anblick eine Wahrnehmung?

Theaitetos: So sage ich.

Sokrates: Wer nur etwas gesehn hat, der hat eine Erkenntnis bekommen von dem, was er gesehen hat, nach unserm jetzigen Satz?

Theaitetos: Ja.

[593] Sokrates: Wie weiter? Gibst du nicht doch auch eine Erinnerung zu?

Theaitetos: O ja.

Sokrates: An nichts oder an etwas?

Theaitetos: An etwas, versteht sich.

Sokrates: Wohl, was einer erfahren und wahrgenommen hat, an etwas davon?

Theaitetos: Woran sonst?

Sokrates: Und was jemand gesehen hat, dessen erinnert er sich doch bisweilen?

Theaitetos: Gewiß erinnert er sich.

Sokrates: Auch indem er die Augen verschließt? Oder hat er es, sobald er dies tut, vergessen?

Theaitetos: Das wäre ja arg, o Sokrates, das zu behaupten.

Sokrates: Und doch müssen wir es, wenn wir nämlich den vorigen Satz retten wollen; wo nicht, so ist es vorbei mit ihm.

Theaitetos: Auch ich, beim Zeus, merke so etwas, noch begreife ich es aber nicht ganz genau. Sage mir also, wie?

Sokrates: So: Wer sieht, sagen wir, hat Erkenntnis bekommen davon, was er sieht. Denn Gesicht und Wahrnehmung und Erkenntnis, haben wir zugegeben, ist einerlei.

Theaitetos: Nun ja.

Sokrates: Wer nun gesehn und Erkenntnis dessen, was er sah, bekommen hat, erinnert sich dessen zwar, wenn er auch die Augen verschließt, sieht es aber dann nicht. Nicht so?

Theaitetos: Ganz recht.

Sokrates: Dies »er sieht nicht« heißt aber so viel als »er erkennt nicht«, wenn doch »er siebt« ebensoviel ist als »er erkennt«.

Theaitetos: Das ist richtig.

Sokrates: Es folgt also, daß jemand das, wovon er Erkenntnis bekommen hat, indem er sich dessen erinnert, doch nicht erkennt, weil er es nicht sieht, eben das, wovon wir gesagt haben, es würde ein Wunder sein, wenn es geschähe.

Theaitetos: Vollkommen recht.

Sokrates: Etwas Unmögliches scheint also zu erfolgen, wenn jemand sagt, Erkenntnis und Wahrnehmung sei dasselbe.

Theaitetos: So scheint es.

Sokrates: Man muß also sagen, jedes von beiden sei ein anderes.

[594] Theaitetos: So wird es sein müssen.

Sokrates: Was ist also wohl die Erkenntnis? Wir müssen es, wie es scheint, noch einmal von vorne an erklären. Allein, Theaitetos, was sind wir doch im Begriff zu tun?

Theaitetos: Wieso?

Sokrates: Es kommt mir vor, als ob wir nach Art eines schlechten Hahns, ehe wir noch gesiegt haben, und von der Sache abspringend unser Siegesgeschrei anstimmten.

Theaitetos: Wieso denn?

Sokrates: Gerade als ob es uns nur um des Widerspruchs halber wäre, scheinen wir bloß den Worten nachgehend unsere Gegenbehauptung aufgestellt zu haben und, indem wir durch solche Mittel den Satz überwunden, ganz zufrieden zu sein; und da wir doch behaupten, keine Kunstfechter zu sein, sondern Weisheitsfreunde, tun wir dennoch unvermerkt gerade dasselbe wie jene gewaltigen Männer.

Theaitetos: Ich verstehe noch immer nicht, wie du es meinst.

Sokrates: So will ich denn versuchen, dir deutlich zu machen, was ich doch von der Sache merke. Wir fragten, ob wohl, wenn jemand etwas erfahren hat und sich dessen erinnert, er es doch nicht erkenne; und nachdem wir gezeigt hatten, daß, wer etwas gesehen hat und dann die Augen verschließt, sich nun dessen erinnert, es aber nicht mehr sieht, zeigten wir, daß er sich erinnere, aber nicht mehr erkenne; dieses aber sei unmöglich, und so ging die Sache verloren, die des Protagoras sowohl als auch zugleich die deinige von Erkenntnis und Wahrnehmung, daß beides einerlei ist.

Theaitetos: Offenbar.

Sokrates: Sie wäre aber, glaube ich, nicht verloren gegangen, Lieber, wenn nur der Vater der andern Lehre noch lebte, sondern dieser würde ihr noch auf vielerlei Art zu Hilfe gekommen sein. Nun aber, da sie verwaist ist, mißhandeln wir sie, zumal auch nicht einmal die Vormünder, welchen Protagoras sie übergeben hat, ihr zu Hilfe kommen wollen, von denen auch Theodoros hier einer ist. Sondern es scheint, wir selbst werden ihr der Billigkeit wegen beistehen müssen. Theodoros; Nicht ich, o Sokrates, sondern vielmehr Kallias, der Sohn des Hipponikos, ist Vormund für seine Angelegenheiten. Ich aber habe mich ziemlich bald aus dem bloßen Denken[595] in die Mathematik gerettet. Dennoch aber werde ich es dir Dank wissen, wenn du ihm beistehst.

Sokrates: Wohlgesprochen, Theodoros! So betrachte nun meine Hilfeleistung: Nämlich es muß jemand noch viel gewaltigere Dinge zugestehen als die vorigen, wenn er nicht genau auf die Worte acht hat, so wie wir gewöhnlich pflegen zu bejahen oder zu verneinen. Soll ich dir sagen, wie, oder dem Theaitetos?

Theodoros: Beiden gemeinschaftlich, Sokrates. Antworten aber mag dir der jüngere; denn wenn er einen Fehler macht, wird es ihm weniger übel stehn.

Sokrates: So will ich denn gleich die gewaltigste Frage vorbringen. Das ist aber, glaube ich, eine solche: Ist es wohl möglich, daß derselbe Mensch, der etwas weiß, das, was er weiß, zugleich auch nicht wisse?

Theodoros: Was wollen wir hierauf antworten, Theaitetos?

Theaitetos: Ich meinesteils halte es für unmöglich.

Sokrates: Keineswegs, wenn du nämlich sagst, das Sehen sei Erkennen. Denn was willst du mit der verfänglichen Frage machen, wenn du einmal, wie man sagt, in die Falle gegangen bist und ein zudringlicher Mensch dir mit der Hand das eine Auge zuhält und dich fragt, ob du mit dem zugehaltenen den Mantel sähest?

Theaitetos: Ich werde sagen: »Mit diesem zwar nicht, wohl aber mit dem andern«.

Sokrates: Also siehst du doch zu gleicher Zeit dasselbe und siehst es auch nicht.

Theaitetos: Auf gewisse Weise wohl.

Sokrates: »Ich begehre ja gar nichts,«sagt er als dann, »von der Art und Weise, habe auch danach gar nicht gefragt, sondern nur, ob, was du erkennst, du dieses auch nicht erkennst? Nun aber zeigt sich, daß du siehst, was du auch nicht siehst. Und eingestanden hast du vorher, das Sehen sei Erkennen und das Nichtsehen Nichterkennen. So berechne nun selbst, was dir hieraus entsteht!«

Theaitetos: Ich berechne schon: das Gegenteil dessen, was ich vorausgesetzt.

Sokrates: Wahrscheinlich, du Wunderbarer, würde dir noch mehr dergleichen begegnen, wenn dich jemand noch außerdem[596] fragte, ob man wohl auch könne scharf erkennen und auch stumpf, oder von nahebei zwar erkennen, von weitem aber nicht, und ebenso laut und leise, und tausend dergleichen, was ein leicht bewaffneter Mann, ein Söldner in Reden in den Hinterhalt legen und, wenn du Erkenntnis und Wahrnehmung als dasselbe gesetzt hast, auf das Hören und Riechen und diese Arten von Wahrnehmungen losgehend dich widerlegen würde, nicht nachlassend, sondern immer eindringend, bis du in Bewunderung seiner verwünschten Weisheit ganz verstrickt würdest, wodurch er dich in seine Gewalt und Gewahrsam bekäme und dich dann loslassen würde nur für so viel Geld, als du mit ihm übereinkommen könntest. Was für eine hilfreiche Rede würde also wohl, fragst du vielleicht, Protagoras für seine Lehre herbeibringen? Sollen wir nicht versuchen, sie vorzutragen?

Theaitetos: Auf alle Weise.

Sokrates: Dieses alles nämlich, was wir jetzt sagten, um ihm beizustehen, und er würde, glaube ich, ziemlich verächtlich gerade auf uns losgehn und sprechen: »Dieser ehrliche Sokrates, weil ein Knäblein sich erschrocken hat, als es gefragt ward, ob wohl derselbe Mensch derselben Sache sich erinnern und sie doch nicht erkennen könnte, und vor Schreck es geleugnet, weil es eben nicht vor sich sehen konnte, hat er einen Mann wie mich hernach zum Gelächter gemacht in seinen Reden. Die Sache aber, du mutwilligster Sokrates, verhält sich so: Wenn du etwas von dem Meinigen durch Fragen untersuchst, und der Gefragte wird, indem er das antwortet, was ich selbst geantwortet hätte, des Irrtums überführt, dann werde ich freilich auch überführt. Antwortet er aber etwas anderes, dann geschieht es auch ihm, dem Gefragten, allein. So, um nur bei dem nächsten anzufangen, glaubst du denn, jemand werde dir zugeben, daß einem die Erinnerung an etwas, was ihm begegnete, einwohnt als ein ebensolcher Zustand wie der, da es ihm begegnete, wiewohl es ihm nun nicht mehr begegnet? Weit gefehlt. Oder daß jemand Bedenken tragen werde zu gestehen, es sei möglich, daß derselbe dasselbe wisse und auch nicht wisse? Oder wenn er auch dieses fürchten sollte, daß er jemals zugeben werde, der Veränderte sei noch derselbe, als ehe er verändert ward? Oder vielmehr, es sei überhaupt jemand der[597] und nicht viel mehr die, und zwar unzählig viele Werdende, solange es noch Verunähnlichung gibt, wenn man sich doch hüten soll, daß nicht einer auf die Worte des andern Jagd mache? Vielmehr, du Leichtsinniger,« würde er sagen, »gehe doch tapferer auf das los, was ich eigentlich behaupte, wenn du nämlich kannst, und widerlege dieses, daß nicht jedem von uns eigentümliche Wahrnehmungen entstehen, oder daß, wenn auch dieses sei, darum doch nicht das Erscheinende für jenen allein werde, oder wenn man Sein sagen soll, sei, dem es erscheint. Sprichst du aber von Schweinen und Affen, so beträgst du dich nicht nur selbst als ein Schwein, sondern überredest auch die, welche dir zuhören, sich ebenso gegen meine Schrift zu betragen, woran du nicht schön handelst. Denn ich behaupte zwar, daß sich die ›Wahrheit‹ so verhalte, wie ich geschrieben habe, daß nämlich ein jeder von uns das Maß dessen sei, was ist und was nicht, daß aber dennoch der eine unendlich viel besser sei als der andere, eben deshalb, weil dem einen dieses ist und erscheint, dem andern etwas anderes. Und weit entfernt bin ich zu behaupten, daß es keine Weisheit und keinen Weisen gebe: sondern eben den nenne ich geradeweise, welcher, wem unter uns Übles ist und erscheint, die Umwandlung bewirken kann, daß ihm Gutes erscheine und sei. Diese Rede aber greife mir nicht wieder bloß bei dem Worte, sondern vernimm erst folgendermaßen noch deutlicher, was ich meine: Erinnere dich nämlich nur, was zum Beispiel in dem vorigen gesagt wurde, daß dem Kranken bitter scheint und ist, was er genießt, dem Gesunden aber ist und scheint es das Gegenteil. Weiser nun soll man freilich keinen von beiden machen, es ist auch nicht möglich; auch darf man nicht klagen, der Kranke sei unverständig, weil er dies so vorstellt, der Gesunde aber weise, weil er es anders vorstellt; wohl aber muß man jenem eine Umwandlung bewirken auf die andere Seite; denn die andere Beschaffenheit ist die bessere. Ebenso ist auch in Sachen des Unterrichts von einer Beschaffenheit eine Umwandlung zu bewirken zur andern. Der Arzt nun bewirkt seine Umwandlung durch Arzneien, der Sophist aber durch Reden. Und niemals hat einer einen, der Falsches vorstellte, dahin gebracht, hernach Wahres vorzustellen. Denn es ist weder möglich, das, was nicht ist, vorzustellen, noch überhaupt anderes, als in jedem[598] erzeugt wird; dieses aber ist immer wahr. Sondern nur demjenigen, der, vermöge einer schlechteren Beschaffenheit seiner Seele, auch auf eine ihr verwandte Art vorstellt, kann eine bessere bewirken, daß er anderes und solche Erscheinungen vorstelle, welche dann einige aus Unkunde das Wahre nennen: ich aber nenne nur einiges besser als anderes, wahrer hingegen nenne ich nichts. Und unter den Weisen, o lieber Sokrates, die Frösche zu meinen, bin ich weit entfernt; sondern in Beziehung auf tierische Leiber verstehe ich darunter die Ärzte, in Beziehung auf Gewächse die Landleute. Denn ich glaube, daß auch diese den Pflanzen anstatt schlechter Wahrnehmungen, wenn sie etwa krank sind, heilsame und gesunde Wahrnehmungen und Wahrheiten beibringen, so wie weise und gute Redner wiederum machen, daß den Staaten anstatt des Verderblichen das Heilsame gerecht erscheint und ist. Denn was jedem Staate schön und gerecht erscheint, das ist es ihm ja auch, solange er es dafür erklärt; der Weise aber macht, daß anstatt des bisherigen Verderblichen ihnen nun Heilsames so erscheint und ist. Auf eben diese Art nun ist auch der Sophist, der diejenigen, welche sich unterrichten lassen, so zu erziehen versteht, allerdings weise und würdig, große Belohnungen von den Unterrichteten zu empfangen. Und so gilt beides: daß einige weiser sind als andere, und daß doch keiner Falsches vorstellt und auch du, magst du nun wollen oder nicht, dir mußt gefallen lassen, ein Maß zu sein. Denn hierdurch wird diese Lehre aufrecht erhalten, gegen welche du nun einwenden magst, wenn du aufs neue etwas einzuwenden hast, so daß du in einer Rede das Gegenteil durchführst, oder willst du es liebet durch Fragen, auch so. Denn auch das muß der Verständige nicht scheuen, sondern auf alle Weise angreifen. Nur dieses beobachte: betrüge nicht im Fragen! Es ist ja auch die größte Unvernunft, wenn einer sagt, es sei ihm nur an der Tugend gelegen, und sich dann doch nicht anders als betrügerisch in seinen Reden beweist. Betrügen aber heißt in dieser Sache, wenn jemand nicht dieses beides gänzlich von einander trennt und anders, wenn er nur streiten will, seine Unterredungen einrichtet, anders aber wieder, wenn er untersuchen will, und im ersten Falle zwar immerhin scherzt und überlistet, soviel er kann, bei der ordentlichen Untersuchung dagegen ernsthaft[599] ist und den mit ihm Untersuchenden zurechtweist, nur diejenigen Fehler ihm aufzeigend, zu denen er durch sich selbst und durch die, mit denen er früher umging, ist verleitet worden. Wenn du es nun so machst, werden diejenigen, welche sich mit dir unterhalten, sich selbst die Schuld beimessen von ihrer Verwirrung und Ungewißheit, nicht aber dir, und werden dir nachgehen und dich lieben, sich selbst aber hassen und von sich entfliehen in die Philosophie, damit sie andere werden und nicht länger die bleiben, die sie vorher waren. Wofern du aber, wie die meisten, das Gegenteil hiervon tust, so wirst du auch das Gegenteil erfahren, und die, welche mit dir umgehn, anstatt zu Philosophen vielmehr zu Feinden dieser Sache machen, wenn sie werden älter geworden sein. Wenn du mir aber folgst, so wirst du nicht etwa feindselig oder streitsüchtig, sondern mit gelassenem Gemüt eingehend wirklich untersuchen, wie wir es nur meinen, wenn wir behaupten, daß sich alles bewegt, und daß, was ein jeder vorstellt, für ihn auch ist, für den Einzelnen sowohl als für den Staat. Und hieraus kannst du hernach weiter folgern, ob Erkenntnis und Wahrnehmung einerlei ist oder verschieden, nicht aber wie vorher bloß aus dem gewohnten Gebrauch der Worte und Bezeichungen, welche die Leute, wie es eben kommt herumziehen, wodurch sie einander vielfältige Verwirrung bereiten.« – Dieses, o Theodoros, habe ich deinem Freunde zur Hilfe dargebracht, nach Vermögen weniges von wenigem; wenn er aber selbst lebte, würde er dem Seinigen weit glänzender beigestanden haben.

Theodoros: Du scherzest, Sokrates; denn du hast dem Manne mit recht jugendlichem Mute beigestanden.

Sokrates: Wohlgesprochen, Freund! Sage mir aber, hast du wohl darauf geachtet, was Protagoras eben sagte, und wie er uns Vorwürfe darüber machte, daß wir, an ein Knäblein unsere Rede richtend, die Furcht dieses Knaben mit gegen ihn gebrauchten im Streif Nannte er nicht dies einen schlechten Scherz und wollte, wie er selbst sein Maß aller Dinge sehr tiefsinnig und gründlich behandelte, daß auch wir ernsthaft umgehn sollten mit seiner Rede?

Theodoros: Wie sollte ich nicht darauf geachtet haben?

Sokrates: Wie also? Rätst du an, ihm zu folgen?

Theodoros: Gar sehr.

[600] Sokrates: Du siehst aber doch, daß dieses sämtlich Knaben sind, dich ausgenommen. Sollen wir also dem Manne folgen, so müssen wir beide einander fragen und antworten, um seinen Satz ernsthaft zu erwägen, damit er uns wenigstens das nicht vorwerfen könne, daß wir nur spielend mit Kindern seine Rede untersucht hätten.

Theodoros: Wie? Sollte nicht Theaitetos besser als viele, die große Bärte tragen, der Prüfung eines Satzes nachfolgen können?

Sokrates: Doch aber nicht besser, lieber Theodoros, als du! Denke also nur nicht, daß ich zwar deinem verstorbenen Freunde auf alle Weise zu Hilfe kommen müsse, du aber gar nicht! Sondern komm her, o Bester, und gehe ein wenig mit, nur so weit, bis wir sehen, ob du in mathematischen Zeichnungen das Maß sein sollst, oder ob alle ebensogut wie du sich selbst genügen können auch in der Sternkunde und dem übrigen, worin du den Rufhast, dich auszuzeichnen!

Theodoros: Es ist wahrlich nicht leicht, Sokrates, wenn man bei dir sitzt, nicht Rede stehen zu müssen, und ich habe eben gar sehr vorbeigeschossen, als ich meinte, du würdest mir wohl erlauben, mich nicht zu entkleiden, und würdest mich nicht zwingen wie die Lakedaimonier. Du aber scheinst dich gar mehr dem Skiron zu nähern. Denn die Lakedaimonier befehlen nur, entweder sich zu entfernen oder sich zu entkleiden. Du aber scheinst deine Sache mehr nach Art des Antaios durchzuführen; denn wer einmal da ist, den läßt du gar nicht los, bis du ihn gezwungen hast, sich zu entkleiden und in Reden mit dir zu streiten.

Sokrates: Vortrefflich, o Theodoros, hast du meine Krankheit durch diese Vergleichung beschrieben. Nur daß ich noch wackerer bin als jene: Denn gar mancher Herakles und Theseus, mächtig im Reden, hat sich mir schon gestellt und mich tüchtig zusammengehauen; aber ich lasse deshalb doch nicht ab, eine so gewaltige Liebe hat mich ergriffen zu solchen Kampfübungen. Und so mißgönne auch du es mit nicht, dich mit mir zu unterreden zu unserm beiderseitigen Nutzen!

Theodoros: Ich widerspreche nicht länger. Führe mich also, wohin du willst; auf alle Weise werde ich hierin das Schicksal, welches du mir anspinnen wirst, ertragen müssen und widerlegt[601] werden. Weiter jedoch nicht, als du vorher bestimmt hast, werde ich mich dir hergeben können.

Sokrates: Auch so weit ist es genug. Und gib mir nur ja darauf Achtung, daß wir nicht wieder unvermerkt in eine kindische Art von Reden hineingeraten und uns dies jemand noch einmal vorrücken könne!

Theodoros: Ich will es wenigstens versuchen, soweit ich kann.

Sokrates: Eben das also laß uns auch jetzt wieder zuerst vornehmen, was vorher, und laß uns sehen, ob wir mit Recht oder mit Unrecht Schwierigkeiten machten und es an dem Satze tadelten, daß er einen jeden sich selbst genügend an Einsicht erklärte, da uns denn Protagoras zugab, daß in Hinsicht auf das Bessere und Schlechtere einige Leute Vorzüge hätten, welche daher auch weise wären. Nicht so?

Theodoros: Ja.

Sokrates: Wenn er nun selbst gegenwärtig dieses zugestanden hätte und nicht bloß wir es eingeräumt, die wir ihn vertreten, so würde es nicht einmal nötig sein, noch einmal von vorn anzufangen, um dies zu befestigen. Nun aber könnte vielleicht jemand behaupten, wir wären nicht bevollmächtigt, für ihn etwas zuzugestehen. Daher ist es besser getan, eben dieses noch einmal genauer durchzugehen. Denn es macht keinen geringen Unterschied, ob es sich so verhält oder anders.

Theodoros: Du hast recht.

Sokrates: Laß uns daher nirgend andersher, sondern eben aus seinem Satze so kurz als möglich die Zustimmung hierzu ableiten!

Theodoros: Wie aber?

Sokrates: So: Was jeder vorstellt, so sagt er doch, das ist auch für den, der es vorstellt?

Theodoros: Das sagt er freilich.

Sokrates: Also, Protagoras, sprechen auch wir eines Menschen oder vielmehr aller Menschen Vorstellungen aus und sagen, daß es keinen, wer es auch sei, gebe, der nicht in einigen Dingen sich selbst für weiser halte als die andern, in andern aber auch andere als sich, und daß sie in den größten Gefahren, wenn sie in Feldzügen, in Krankheiten, auf der See in Not geraten, sich zu denen, welche in diesen Umständen die Regierung führen, als zu Göttern wenden und auf sie als ihre[602] Retter hoffen, die sich doch durch nichts anderes unterscheiden als durch das Wissen. Und überall im menschlichen Leben ist es voll von solchen, welche Lehrer und Gebieter suchen für sich selbst und die andern Geschöpfe und ihre Handlungen, und ebenso auch voll von solchen, welche glauben, daß sie imstande sind zu lehren und imstande zu gebieten. Und in allen diesen Fällen, was können wir anders sagen, als daß die Menschen selbst glauben, es gebe unter ihnen Weisheit und Unverstand?

Theodoros: Nichts anderes.

Sokrates: Halten sie nun nicht die Weisheit für richtige Einsicht, den Unverstand aber für falsche Vorstellung?

Theodoros: Wofür sonst?

Sokrates: Was also, o Protagoras, sollen wir mit dieser Rede anfangen? Sollen wir sagen, daß die Men schen immer richtig vorstellen? Oder bisweilen richtig, bisweilen falsch? Denn aus beiden ergibt sich auf jeden Fall, daß sie nicht immer richtig, sondern auf beide Weise vorstellen. Denn bedenke nur, o Theodoros, ob wohl einer von denen, die es mit dem Protagoras halten, oder du selbst behaupten wolltest, daß niemand glaube, ein anderer sei unverständig und mache sich falsche Vorstellungen?

Theodoros: Das wäre ja unglaublich, Sokrates.

Sokrates: Und doch kommt in diese Not der Satz, welcher behauptet, daß der Mensch das Maß aller Dinge ist.

Theodoros: Wie doch?

Sokrates: Wenn du bei dir selbst etwas abgeurteilt hast und mir nun deine Vorstellung davon kund tust, so muß nach jenes Behauptung dir zwar dieses Wahrheit sein; steht es aber uns andern nicht frei, auch wieder Richter zu sein über dein Urteil, oder urteilen wir, daß du immer richtig vorstellst? Und werden nicht vielmehr in jedem Fall unzählig viele gegen dich streiten, welche das Gegenteil vorstellen und glauben, daß du falsch meinst und urteilst?

Theodoros: Jawohl, beim Zeus, o Sokrates, unzählig viele, wie Homeros sagt, und die mir aller Welt Händel erregen.

Sokrates: Wie also; Willst du, wir sollen sagen, daß du dann dir selbst zwar richtig vorstellst, jenen unzähligen aber falsch?

[603] Theodoros: So scheint es wenigstens dem Satze nach notwendig zu sein.

Sokrates: Wie ist es aber mit dem Protagoras selbst? Wird er nicht gestehen müssen, daß, wenn er selbst nicht glaubte, daß der Mensch das Maß ist, noch auch die Leute, wie diese es auch wirklich nicht glauben, – daß dann diese »Wahrheit« für niemanden wäre, die er geschrieben hat? Und wenn er es glaubt, die Leute aber es nicht mit ihm glauben, so weißt du doch zuerst, daß sie alsdann um desto mehr nicht ist als ist, je mehrere nicht so vorstellen, als so vorstellen?

Theodoros: Allerdings, da sie ja nach Maßgabe der einzelnen Vorstellungen auch sein wird und nicht sein.

Sokrates: Hernach ist doch dieses das Schönste bei der Sache: Er gibt gewissermaßen zu, daß die Meinung der entgegengesetzt Vorstellen denüber seine Meinung, vermöge deren sie dafür halten, er irre, wahr ist, indem er ja behauptet, daß alle vorstellen, was ist.

Theodoros: Allerdings.

Sokrates: So gäbe er also zu, daß seine eigene falsch ist, wenn er eingesteht, daß die Meinung derer wahr ist, die dafür halten, er irre?

Theodoros: Notwendig.

Sokrates: Die andern aber geben von sich nicht zu, daß sie irren?

Theodoros: Ganz und gar nicht.

Sokrates: Er aber gesteht auch dieser Vorstellung wiederum zu, daß sie richtig sei, zufolge dessen, was er geschrieben hat.

Theodoros: So scheint es.

Sokrates: Von allen also, beim Protagoras angefangen, wird bestritten werden, oder vielmehr von ihm doch zugestanden, wenn er dem, der das Gegenteil von ihm behauptet, zugibt, er stelle richtig vor, – dann muß auch Protagoras selbst einräumen, daß weder ein Hund noch auch der erste beste Mensch das Maß ist auch nicht für eine Sache, die er nicht erlernt hat. Nicht so?

Theodoros: So ist es.

Sokrates: Wenn dies also von allen bestritten wird, so wäre sie ja für niemanden wahr, diese »Wahrheit« des Protagoras, weder für irgend einen andern noch auch für ihn selbst.

[604] Theodoros: Gar zu heftig, o Sokrates, rennen wir meinen Freund um.

Sokrates: Aber, Lieber, es ist ungewiß, ob wir auch etwa an dem Richtigen vorbeirennen. Denn zu glauben ist, daß jener so viel Ältere auch weiser ist als wir, und könnte er sich jetzt hier hervorarbeiten nur bis an den Hals, so würde er mich sowohl, daß ich in den Tag hineingeredet, wie sehr wahrscheinlich, hart bestrafen, als auch dich, daß du alles eingeräumt, und würde dann wieder untertauchen und davongehen. Indes werden wir uns, denke ich, mit uns selbst begnügen müssen und nur sagen, was uns jedesmal richtig scheint. So auch jetzt: Können wir etwas anderes sagen, als daß jeder, wer es auch sei, dies zugeben müsse, daß einer weiser ist als andere, und so auch unwissender?

Theodoros: Mich zum wenigsten dünkt es so.

Sokrates: Auch etwa, daß der Satz am besten so bestehen werde, wie wir ihn, um dem Protagoras zu helfen, entworfen haben, daß vieles zwar einem jeden, wie es ihm scheint, so auch ist, das Warme nämlich, das Trockene, das Süße und alles zu dieser Art Gehörige. Wenn er aber doch einräumen soll, daß in einigen Dingen einer besser sein soll als der andere, so würde er am liebsten sagen mögen, daß in Absicht auf das Gesunde und Ungesunde nicht jedes Weib oder Kind oder Tier imstande wäre, sich selbst zu heilen durch seine Erkenntnis dessen, was ihm gesund ist; sondern hierin, wenn irgendwo, wäre der eine besser als der andere.

Theodoros: So wenigstens scheint es mir.

Sokrates: Ebenso auch in politischen Dingen: das Schöne und Schlechte, das Gerechte und Ungerechte, das Fromme und Unfromme, was in diesen Dingen ein Staat für Meinung faßt und dann feststellt als gesetzmäßig, das ist es nun auch für jeden in Wahrheit, und in diesen Dingen ist um nichts weiser weder ein Einzelner als der andere, noch ein Staat als der andere. In der Festsetzung aber dessen, was ihm zuträglich ist oder nicht zuträglich, hier wiederum wird, wenn irgendwo, zugegeben werden müssen, daß der eine Ratgeber sich unterscheidet vor dem andern und des einen Staates Vorstellung vor des andern in bezug auf Wahrheit, und keineswegs dürfte er wagen zu behaupten, daß, was ein Staat festsetzt als nützlich für[605] sich, dies ihm auch auf alle Weise nützen werde. Bei jenem vorher Erwähnten aber, dem Recht und Unrecht, dem Frommen und Gottlosen, wollen sie behaupten, daß nichts in dieser Art schon von Natur eine bestimmte Beschaffenheit habe; sondern, was gemeinsam vorgestellt werde, das werde wahr zu der Zeit, wann es dafür gehalten werde, und so lange, als es dafür gehalten werde. Und so viele doch nicht völlig des Protagoras Lehre lehren, halten sich doch hierzu mit ihrer Weisheit. Aber, o Theodoros, wir kommen immer aus einer Untersuchung in die andere, und aus einer kleineren in eine größere.

Theodoros: Haben wir denn nicht Muße, Sokrates?

Sokrates: Ja, so scheint es. Deshalb, du herrlicher Mann, habe ich schon oftmals und auch jetzt wieder bedacht, wie natürlich es zugeht, daß die, welche viele Zeit mit wissenschaftlichen Dingen hinbringen, wenn sie einmal in die Gerichtshöfe kommen, als Redner sich lächerlich machen.

Theodoros: Wie meinst du das?

Sokrates: Mir scheint, daß diejenigen, welche sich von Jugend auf an den Gerichtsstätten oder dergleichen aufhalten, in Vergleich mit denen, welche bei den Wissenschaften und in solchen Beschäftigungen erzogen werden, wie Knechte erzogen sind im Vergleich mit Freien.

Theodoros: Inwiefern doch?

Sokrates: Insofern jenen das, was du eben nanntest, die Muße niemals fehlt und sie ruhig mit Muße ihre Untersuchungen anstellen, so wie wir jetzt schon die dritte, wie sie eine aus der andern gefolgt sind, anknüpfen; so auch sie, wenn ihnen eine sich eben darbietende besser gefällt als die bereits vorliegende, und es kümmert sie nichts, ob sie lang oder kurz reden, wenn sie nur das Rechte treffen. Die andern aber reden teils immer im Gedränge, denn es treibt sie zur Eile das Wasser, welches abfließt, und läßt ihnen nicht zu, worüber sie es am liebsten möchten, Untersuchungen anzustellen; sondern der Gegner steht dabei und hat Zwang für sie und die abgelesenen Punkte, über deren Grenzen hinaus sie nichts reden dürfen. Dann auch beziehen sich ihre Reden immer auf einen ihrer Mitknechte und sind gerichtet an einen Herrn, welcher vor ihnen sitzt und die Gewalt in Händen hat. Und der Streit geht niemals um dies und jenes, sondern immer um die Sache,[606] ja oft geht es um das Leben. So daß sie durch alles dieses zwar scharfsichtig gemacht werden und gewitzigt und sich trefflich darauf verstehen, ihrem Herrn mit Worten zu schmeicheln und mit der Tat zu dienen; aber kleinlich und ungerade sind ihre Seelen. Denn die Knechtschaft von Jugend an hat ihnen das Wachstum und das freie gerade Wesen benommen, indem sie sie nötigt, krumme Dinge zu verrichten, und die noch zarte Seele in große Gefahren und Besorgnisse verwickelt, welche sie ohne Verletzung des Gerechten und Wahren nicht überstehen können, so daß sie, sogleich zur Lüge und zum gegenseitigen Unrechttun sich hinwendend, so verborgen und verkrüppelt werden, daß schon nichts Gesundes mehr an ihren Seelen ist, wenn sie aus Jünglingen zu Männern werden, wie gewaltig und weise sie auch geworden zu sein glauben. So nun sind diese beschaffen, Theodoros. Die aber von unserer Schar, willst du, daß wir die auch beschreiben, oder willst du, daß wir sie lassen und uns wiederum zu unserer Rede wenden, damit wir doch nicht die Freiheit und Ungebundenheit unserer Reden, von welchen ich eben sprach, allzustark gebrauchen?

Theodoros: Keineswegs, Sokrates, sondern beschreiben wollen wir sie. Denn sehr richtig hast du dieses bemerkt, daß wir, die wir uns zu dieser Schar halten, nicht Knechte unserer Reden sind, sondern die Reden gleichsam unsere Dienstleute, welche es erwarten müssen, abgefertigt zu werden, wie es uns gefällt. Denn weder ein Richter noch wie bei den Dichtern ein Zuschauer sitzt vor uns mit der Befugnis, uns zu strafen oder zu befehlen.

Sokrates: So laß uns denn, da es dir so gefällt, von denen reden, welche an der Spitze stehen: Denn was sollte man auch von denen sagen, welche sich nur auf eine schlechte Art mit der Philosophie beschäftigen? Jene nun wissen von Jugend auf nicht einmal den Weg auf den Markt, noch wo das Gerichtshaus, noch wo das Versammlungshaus des Rates ist, noch wo irgend eine andere Staatsgewalt ihre Sitzung hält. Gesetze aber und Volksbeschlüsse, geschriebene oder ungeschriebene, sehen sie weder noch hören sie. Das Bewerben der Klubs um die obrigkeitlichen Ämter und die beratschlagenden Zusammenkünfte und die Feste mit Flötenspielerinnen, dergleichen[607] zu besuchen fällt ihnen auch im Traume nicht ein. Ob ferner jemand edel oder unedel geboren ist in der Stadt, oder was einem von seinen Vorfahren her Übles anhängt von väterlicher oder mütterlicher Seite, davon weiß er weniger, wie man sagt, als wieviel es Sand am Meere gibt. Und von dem allen weiß er nicht einmal, daß er es nicht weiß. Denn er enthält sich dessen nicht, etwa um sich einen Ruf damit zu machen, sondern in der Tat wohnt nur sein Körper im Staate und hält sich darin auf; seine Seele aber, dieses alles für gering haltend und für nichtig, schweift verachtend nach Pindaros überall umher, was auf der Erde und was in ihren Tiefen ist, messend und am Himmel die Sterne verteilend und überall jegliche Natur alles dessen, was ist, im ganzen erforschend, zu nichts aber von dem, was in der Nähe ist, sich herablassend.

Theodoros: Wie meinst du dies, Sokrates?

Sokrates: Wie auch den Thales, o Theodoros, als er, um die Sterne zu beschauen, den Blick nach oben gerichtet in den Brunnen fiel, eine artige und witzige thrakische Magd soll verspottet haben, daß er, was am Himmel wäre, wohl strebte zu erfahren, was aber vor ihm läge und zu seinen Füßen, ihm unbekannt bliebe, – mit diesem nämlichen Spotte nun reicht man noch immer aus gegen alle, welche in der Philosophie leben. Denn in der Tat, ein solcher weiß nichts von seinem Nächsten und Nachbar, nicht nur nicht, was er betreibt, sondern kaum, ob er ein Mensch ist oder etwa irgend ein anderes Geschöpf. Was aber der Mensch an sich sein mag, und was einer solchen Natur ziemt, anders als alle anderen zu tun und zu leiden, das untersucht er und läßt es sich Mühe kosten, es zu erforschen. Du verstehst mich doch, Theodoros, oder nicht?

Theodoros: Sehr gut; und sehr wahr ist, was du sagst.

Sokrates: Daher auch, o Freund, ein solcher, wenn er mit jemand für sich Geschäfte zu treiben hat, oder auch in öffentlichen Angelegenheiten, wie ich anfangs sagte, wenn er etwa vor Gericht oder sonst irgendwo von dem, was vor den Füßen oder sonst vor aller Augen ist, genötigt wird zu reden, so erregt er Gelächter, nicht nur den Thrakierinnen, sondern auch dem übrigen Volk, indem er aus Unerfahrenheit in Gruben und in allerlei Verlegenheit hineinfällt, und seine gewaltige Ungeschicktheit erregt die Meinung, er sei unverbesserlich. Denn[608] wo es darauf ankommt, einen mit Schmähungen anzugreifen, weiß er keinen einzeln anzugreifen, indem er von niemand irgend etwas Übles weiß, weil er sich nie darum bekümmert hat. Weil er nun keinen Rat weiß, erscheint er lächerlich. Und wiederum, wo gelobt und in prächtigen Worten geredet werden soll von andern, gibt sich kund, daß er lacht, nicht nur verstellterweise, sondern ganz ordentlich, und so erscheint er albern. Denn wo er einen Tyrannen oder König lobpreisen hört, kommt es ihm vor, als hörte er irgend einen Hirten der Schweine oder Schafe oder einen Rinderhirten glücklich preisen, weil er viel melkt; nur glaubt er, daß jener ein unlenksameres und boshafteres Tier hütet und melkt als diese; und daß doch ungesittet und ungebildet ein solcher aus Mangel an Muße nicht minder sein muß als andre Hirten eingezwängt in seine Mauern eben wie jene in die Hürden auf den Bergen. Hört er aber von tausend Morgen Landes oder noch mehr, als hätte, wer sie besitzt, ein ungeheuer großes Besitztum, so dünkt ihn, er höre einer großen Kleinigkeit erwähnen, gewohnt wie er ist, über die ganze Erde zu schauen. Und wenn sie gar die Geschlechter besingen, wie irgend ein Edler sieben reiche Ahnherren habe aufzuweisen, so dünkt ihn, ein sehr kurzsichtiges Lob zu hören von solchen, die nur auf das Kleine merken und aus Unwissenheit nicht vermögen, immer auf das Ganze zu blicken noch zu berechnen, daß Großväter und Vorfahren unzählige Tausende ein jeder gehabt hat, worunter Reiche und Arme, Könige und Knechte, Ausländer und Hellenen oftmals zehntausend können gewesen sein bei dem ersten besten. Aber ein Verzeichnis von fünfundzwanzig Vorfahren für etwas Großes ausgeben, die etwa auf Herakles, den Sohn des Amphitryon zurückgehn, das gilt ihm für das Ungereimteste in der Kleinlichkeit; und er lacht, daß sie, wie nun hinaufwärts vom Amphitryon der fünfundzwanzigste doch wieder einer war, wie es sich eben traf, und der fünfzigste von ihm, daß sie dies nicht einmal vermögen sich vorzurechnen und sich dadurch das aufgeblasene Wesen einer törichten Seele zu vertreiben. Wegen alles dessen nun wird ein solcher von der Menge verlacht, indem er hier sich stolz zeigt, wie es ihnen dünkt, dort aber wieder unwissend in dem, was vor seinen Füßen liegt, und ratlos in allem einzelnen.

[609] Theodoros: Genau wie es geschieht, stellst du es dar, Sokrates.

Sokrates: Zieht er selbst aber einen zu sich hinauf, Lieber, und will sich einer ihm versteigen von dem »Ob ich dir hierin Unrecht tue oder du mir« zur Untersuchung der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit selbst, was jede von ihnen ist, und wodurch sie unter sich und von allem übrigen unterschieden sind, oder von dem »Glücklich ist ein König, der viel Goldes besitzt« zu der Frage vom Königtum selbst und überhaupt von menschlicher Glückseligkeit und Elend, worin beides besteht, und auf welche Weise es der menschlichen Natur zukommt, die eine zu erlangen und dem andern zu entgehen, – sobald über eins von diesen Dingen ein solcher Kleingeistiger, Scharfsinniger, in Rechtsstreiten Gewandter Rede stehen soll, dann bezahlt wiederum er das gleiche; schwindelnd wie er von der Höhe herüberhängt, und von oben herabschauend aus Ungewohntheit der Sache ängstlich und unbeholfen, der Sprache nicht mächtiger als ein ausländischer Knecht, erregt er den Thrakierinnen zwar nicht Gelächter, auch sonst den Ununterrichteten nicht – denn sie bemerken es nicht –, wohl aber allen, welche nicht wie Leibeigene, sondern auf die entgegengesetzte Art aufgewachsen sind. Dies nun, o Theodoros, ist die Weise eines jeden von beiden: die eine dessen, der wahrhaft in Freiheit und Muße auferzogen ist, den du einen Philosophen nennst, und dem es ungestraft hingehen mag, daß er einfältig erscheint und nichts gilt, wo es auf knechtische Dienstleistungen ankommt, daß er etwa nicht versteht, das Bündel zu schnüren, das nachgetragen werden soll, oder eine Speise schmackhaft zu bereiten, oder auch schmeichlerische Worte; die andere ist die Weise dessen, der alles dieses zwar zierlich und behende zu beschicken weiß, dagegen aber nicht einmal seinen Mantel wie ein freier Mann zu tragen versteht, viel weniger, in Wohlklang der Rede eingreifend, würdig zu preisen das wahrhafte Leben der seligen Götter und Menschen.

Theodoros: Wenn du, o Sokrates, alle wie mich überzeugtest von dem, was du sagst, so würde mehr Friede und des Bösen viel weniger sein unter den Menschen.

Sokrates: Das Böse, o Theodoros, kann weder ausgerottet werden (denn es muß immer etwas dem Guten Entgegengesetztes[610] geben) noch auch bei den Göttern seinen Sitz haben. Unter der sterblichen Natur aber und in dieser Gegend zieht es umher jener Notwendigkeit gemäß. Deshalb muß man auch trachten, von hier dorthin zu entfliehen aufs schleunigste. Der Weg dazu ist Verähnlichung mit Gott soweit als möglich; und diese Verähnlichung besteht darin, daß man gerecht und fromm sei mit Einsicht. Allein, o Bester, es ist gar nicht leicht, deutlich zu machen, daß nicht aus der Ursache, weshalb die meisten sagen, daß man die Schlechtigkeit fliehen und der Tugend nachstreben solle, die eine zu suchen ist und die andere nicht, damit man nämlich nicht böse, sondern gut zu sein scheine. Denn dies ist nur, was man nennt der alten Weiber Geschwätz, wie es mir scheint; das Wahre aber wollen wir so vortragen: Gott ist niemals und auf keine Weise ungerecht, sondern im höchsten Sinne vollkommen gerecht, und nichts ist ihm ähnlicher, als wer unter uns ebenfalls der Gerechteste ist. Und hieraufgeht auch die wahre Meisterschaft eines Mannes sowie seine Nichtigkeit und Unmännlichkeit. Denn die Erkenntnis hiervon ist wahre Weisheit und Tugend, und die Unwissenheit hierin die offenbare Torheit und Schlechtigkeit. Jegliche andere dafür geltende Meisterschaft und Einsicht aber ist, wenn sie in der bürgerlichen Verwaltung sich zeigt, nur etwas Gemeines, wenn sie in den Künsten sich zeigt, etwas Unfreies und Niedriges. Wer also Ungerechtes und Gottloses redet und tut, dem ist es bei weitem am besten, man gebe ihm nicht zu, er habe es zur Meisterschaft gebracht mit arglistigem Wesen: denn sie freuen sich über den Vorwurf und glauben zu hören, daß sie nicht Toren sind, unnütze Lasten der Erde, sondern Männer, wie die sein müssen, denen es im Staate wohlgehn soll. So muß man ihnen demnach die Wahrheit sagen, daß sie nur um desto mehr solche sind, wie sie nicht glauben, weil sie es nicht glauben. Denn unbekannt ist ihnen, was am wenigsten jemandem unbekannt sein sollte, die Strafe der Ungerechtigkeit, nämlich nicht, was sie dafür halten. Leibesstrafe und Tod, wovon ihnen oft nichts widerfährt beim Unrechttun, sondern eine, welcher zu entfliehen unmöglich ist.

Theodoros: Welche meinst du denn?

Sokrates: Zwei Vorbilder, o Freund, sind aufgestellt in der Welt: das Göttliche der größten Glückseligkeit und das Ungöttliche[611] des Elendes; sie aber sehen nicht, daß es sich so verhält, und werden aus Torheit und höchstem Unverstande unvermerkt um der ungerechten Handlungen willen diesem ähnlich, immer unähnlicher aber jenem. Wofür sie dann die Strafe leiden, indem sie ein Leben führen, dem angemessen, welchem sie ähnlich geworden. Sagen wir ihnen nun, daß, wenn sie von jener Meisterschaft nicht ablassen, dann auch nach geendetem Leben jener von allen Übeln gereinigte Ort sie nicht aufnehmen werde, sondern sie immer hier ein ihnen, wie sie sind, ähnliches Leben führen werden, als Böse im Bösen lebend, so hören sie das alles doch nur an wie Weise und Überkluge, wenn armselige Toren etwas sagen. Theodoros: Ganz gewiß, Sokrates.

Sokrates: Ich weiß es, Freund. Eines aber begegnet ihnen doch, daß, wenn sie einzeln Rede stehen und Antwort geben sollen von dem, was sie tadeln, und sie wirklich tapfer lange genug aushaken und nicht unmännlich fliehen, – dann, mein Guter, endet es wunderlich mit ihnen, daß sie sich selbst nicht gefallen in dem, was sie sagen, und daß ihre Redekunst gleichsam ganz zusammenschrumpft und sie nicht besser erscheinen als Kinder. – Doch laß uns hiervon, da es ohnedies nur beiläufig gesagt war, nun abstehen; wo nicht, so möchte uns immer neu Zuströmendes die erste Rede ganz verschütten. Laß uns aber zu dem vorigen zurückkehren, wenn es dir so recht ist!

Theodoros: Mir, o Sokrates, war nicht minder angenehm, dieses zu hören, dem auch in meinen Jahren leichter ist nachzufolgen. Gefällt es dir jedoch, so laß uns wieder zurückgehen!

Sokrates: Waren wir nicht da bei unserer Rede, wo wir sagten, daß diejenigen, welche das bewegliche Sein annähmen, und die annähmen, daß, was jedem jedesmal scheine, auch ihm, dem es scheint, wirklich so sei, – daß diese von allem übrigen und so auch vorzüglich vom Recht behaupteten, was ein Staat feststellte als ihm annehmlich, das sei auch für ihn, welcher es feststellt, recht, solange er es stehen ließe, daß aber, was das Gute betrifft, doch wohl keiner von ihnen so mutig wäre, daß er sich unterstände zu behaupten, auch was ein Staat, weil er es dafür hielte, als nützlich aufstellte, das wäre ihm auch, solange er es gelten ließe, wirklich nützlich? Es müßte denn jemand[612] nur von dem Worte reden, und das wäre ja in Beziehung auf das, was wir meinen, nur ein Scherz. Nicht wahr?

Theodoros: Freilich.

Sokrates: Man rede also nicht von dem Worte, sondern von der Sache, welche unter diesem Namen in Betrachtung gezogen wird.

Theodoros: Freilich nicht.

Sokrates: Was er aber so nennt, das sucht auch jeder Staat bei seiner Gesetzgebung zu treffen und richtet alle Gesetze, soviel er nämlich kann und weiß, so nützlich für sich selbst ein als möglich. Oder sieht er auf etwas anderes, indem er Gesetze gibt?

Theodoros: Gewiß nicht.

Sokrates: Erlangt er es nun auch jedesmal? Oder verfehlt nicht auch jeder gar vieles?

Theodoros: Ich glaube, daß sie auch verfehlen.

Sokrates: Noch mehr würde von hier aus besonders gewiß jeder das nämliche zugeben, wenn man nach der ganzen Gattung fragte, worin auch das Nützliche liegt. Es bezieht sich nämlich allemal auf die künftige Zeit. Denn wenn wir Gesetze geben, so geben wir sie, weil sie nützlich sein sollen auf die nachherige Zeit, und dies nennen wir doch richtig die Zukunft.

Theodoros: Freilich.

Sokrates: Komm also und laß uns den Protagoras oder einen andern, der dasselbe wie er behauptet, also fragen: Der Mensch ist das Maß aller Dinge, wie ihr sagt, o Protagoras, des Weißen, des Schweren, des Leichten, kurz, aller Dinge ohne Ausnahme von dieser Art. Denn er hat das Kennzeichen davon in sich selbst, indem er sie für solches haltend, wie ihm begegnet, richtig vorstellt für sich selbst und wie sie sind. Ist es nicht so?

Theodoros: Völlig so.

Sokrates: Sollen wir nun sagen, o Protagoras, daß er auch das Kennzeichen dessen, was sein wird, in sich selbst hat, und daß, welcherlei jeder glaubt, daß für ihn sein werde, solcherlei auch ihm, dem Glaubenden, entsteht? Wie etwa mit der Wärme, wenn irgend ein Unkundiger glaubt, das Fieber werde ihn ergreifen, und diese Wärme werde ihm entstehen; ein anderer aber, ein Arzt, glaubte das Gegenteil: sollen wir sagen, die Zukunft werde nach eines von beiden Meinungen ablaufen, oder[613] etwa nach beider? Und wird er für den Arzt nicht warm und nicht fieberhaft werden, für sich aber beides?

Theodoros: Lächerlich wäre das ja.

Sokrates: So, glaube ich, ist über den künftigen süßen oder herben Geschmack des Weines die Meinung des Landmanns, nicht aber die des Tonkünstlers entscheidend.

Theodoros: Wie sonst!

Sokrates: Ebensowenig kann wohl von dem, was gut oder übel klingen wird, ein Turnmeister eine richtigere Vorstellung haben als ein Tonkünstler, selbst von dem, was hernach auch ihm, dem Turnmeister, wohlklingend erscheinen wird.

Theodoros: Keineswegs.

Sokrates: So ist auch, wenn ein Mahl bereitet wird, das Urteil dessen, der bewirtet wird und der kein Speisekünstler ist, minder gültig als des Kochs Urteil über die daraus zu erwartende Sinnenlust. Denn über das Angenehme, was jedem bereits ist oder geworden ist, wollen wir nicht weiter aufs neue einen Streit erregen, sondern nur über das, was künftig einem jeden scheinen und sein wird, ob auch da ein jeder für sich selbst der beste Richter ist; oder ob du, Protagoras, was jedem von uns vor Gericht durch Reden glaublich gemacht werden kann, besser im voraus vorstellen wirst als irgend ein der Sache Unkundiger?

Theodoros: Ei wohl, o Sokrates; hierin eben verhieß er ja vorzüglich besser zu sein als irgend einer.

Sokrates: Gar recht, du Lieber. Oder es hätte ja gewiß niemand viel Geld für seine Unterhaltung bezahlt, wenn er seine Zuhörer nicht überredete, daß das, was in Zukunft scheinen und sein wird, weder ein Seher noch sonst ein anderer besser beurteilen könne als eben er.

Theodoros: Vollkommen wahr.

Sokrates: Gehn nun nicht auch die Gesetzgebungen und das Nützliche auf die Zukunft? Und muß nicht doch jeder gestehen, daß ein gesetzgebender Staat oft das Nützlichste verfehle?

Theodoros: Sicher.

Sokrates: Bescheidentlich also können wir zu deinem Lehrer sagen, daß er notwendig eingestehen muß, einer sei weiser als der andere, und nur ein solcher sei ein Maß; ich aber, der Unwissende,[614] könne auf keine Weise gezwungen werden, ein Maß zu sein, wie doch nur eben die für ihn gesprochene Rede mich zwang, ich mochte wollen oder nicht, eins zu sein.

Theodoros: An diesem Ort, o Sokrates, scheint nur der Satz am besten gefangen zu werden, wie er auch da gefangen ist, wo er die Meinungen anderer gelten läßt, welche doch offenbar seine Sätze nicht für wahr halten wollten.

Sokrates: Noch an vielen andern Orten, o Theodoros, kann ein solcher Satz gefangen werden, daß jede Vorstellung eines jeden wahr sein soll. Was aber den gegenwärtigen Zustand eines jeden betrifft, woraus die Wahrnehmungen und die sich auf sie beziehenden Vorstellungen entstehen, so ist es schwerer zu zeigen, daß diese nicht wahr sein sollen. Oder vielmehr ist das nichts gesagt, und diese sind vielleicht ganz unwiderleglich, so daß diejenigen, welche behaupten, diese wären untrüglich und Erkenntnisse, vielleicht wohl das Richtige sagen mögen und also auch unser Theaitetos nicht weit vom Ziele getroffen hat, als er festsetzte, daß Wahrnehmung und Erkenntnis dasselbe wären. Wir müssen also näher darauf zugehen, wie die für den Protagoras geführte Verteidigung uns gebot, und dieses schwebende und bewegliche Dasein noch einmal betrachtend daran klopfen, ob es ganz klingt oder zerbrochen. Der Streit darüber ist ja aber schon immer nicht gering gewesen, und nicht unter wenigen.

Theodoros: Wahrlich, keineswegs gering, vorzüglich in Ionien verbreitet er sich gar sehr. Denn die Freunde des Herakleitos sind sehr tapfere Anführer bei der Verteidigung dieses Satzes.

Sokrates: Um desto mehr, lieber Theodoros, müssen wir von vorn an betrachten, so wie sie ihn eigentlich vorzeichnen.

Theodoros: Allerdings, Sokrates. Nur daß, was diese Herakleitischen oder, wie du sagst, Homerischen und noch Älteren betrifft, mit denen zu Ephesos, so viel deren der Sache kundig zu sein vorgeben, sich in ein ernsthaftes Gespräch einzulassen nicht besser angeht, als wollte man es mit solchen versuchen, die, von bösartigen Tieren zerstochen, nicht einen Augenblick stillstehen können; denn ordentlich, wie es in ihren Schriften heißt, fließen sie auch, festen Fuß aber zu fassen bei einem Satz und einer Frage, und gelassen jeder nach seiner Ordnung zu[615] fragen und zu antworten, davon ist ihnen weniger verliehen als nichts. Ja nicht einmal nichts ist schon zu viel gesagt, so wenig Ruhe ist in diesen Leuten. Sondern wenn du einen etwas fragst, so ziehn sie wie aus ihrem Köcher rätselhafte kleine Sprüchlein hervor und schießen diese ab; und willst du dann darüber wieder eine Erklärung, wie es gemeint gewesen, so wirst du von einem andern ähnlichen getroffen von ganz neuer Wortverfertigung. Zu Ende bringen wirst du aber niemals etwas mit einem von ihnen, noch auch sie selbst unter einander. Sondern sehr genau beobachten sie dieses, daß ja nichts fest bleibe weder in der Rede noch auch in ihren eigenen Seelen, indem sie, wie mich dünkt, besorgen, dies möchte etwas Beharrliches sein, wogegen sie ebenso gewaltig streiten und es überall, wo sie nur können, vertreiben.

Sokrates: Vielleicht, Theodoros, hast du die Männer nur gesehen, wenn sie Krieg führen, bist aber nicht mit ihnen gewesen, wenn sie Frieden halten; denn sie sind dir eben nicht freund. Dergleichen aber, glaube ich, werden sie in ruhigen Stunden ihren Schülern mitteilen, welche sie sich ähnlich zu machen suchen.

Theodoros: Was doch für Schülern, du Wunderlicher? Bei diesen wird gar nicht einer des andern Schüler, sondern sie wachsen von selbst auf, jeder, woher es ihm eben kommt, begeistert, und einer hält immer den andern für nichts. Von diesen also wirst du, wie ich schon sagen wollte, niemals eine Antwort erhalten, weder gutwillig noch gezwungen; sondern wir müssen sie selbst, als ob wir sie wie eine Aufgabe vorgelegt bekommen hätten, in Betrachtung ziehen.

Sokrates: Dies erinnerst du sehr richtig. Haben wir nun nicht die Aufgabe zuerst von den Alten, welche sich mit Hilfe der Dichtkunst den meisten verbargen, so empfangen, daß der Ursprung von allem Okeanos und Tethys, Flüsse, wären, und daß nichts fest stehe; von den Neueren demnächst, welche weiter sind und alles ganz offenbar vorzeigen, damit auch die Schuhmacher ihre Weisheit hören und lernen, und aufhören, törichterweise zu glauben, daß einiges beharrlich sei unter dem, was ist, und anderes sich bewege, sondern von ihnen lernen und sie dafür ehren mögen, daß alles sich bewegt. Beinahe aber hätte ich vergessen, o Theodoros, daß andere wiederum das[616] gerade Gegenteil, von diesem behauptet haben, nämlich das Unbewegliche sei der richtige Name des Ganzen, und was sonst die Melissos und die Parmenides allen diesen zuwider behaupten, daß alles eins ist und selbst in sich besteht, indem es keinen Raum hat, worin es sich bewegen könnte. Was nun. Lieber, sollen wir mit allen diesen beginnen? Denn allmählich vorrückend sind wir unvermerkt in die Mitte zwischen beide geraten, und wenn wir uns nicht auf irgend eine Art zu helfen wissen, daß wir ihnen entfliehen, werden wir Strafe leiden müssen wie die, welche auf dem Übungsplatz nach der Linie spielen, wenn sie nun, von beiden ergriffen, nach entgegengesetzten Seiten gezogen werden. Ich denke also, wir wollen zuerst jene, auf welche wir anfänglich stießen, in Betrachtung ziehen, die Fließenden, und wenn sich zeigt, daß sie etwas Gegründetes sagen, so wollen wir ihnen selbst helfen, uns ziehen, und wollen versuchen, den andern zu entkommen. Wenn aber die, welche das Ganze feststellen, etwas Richtigeres zu behaupten scheinen, so wollen wir im Gegenteil zu ihnen fliehen von jenen, die auch das Unbewegliche bewegen. Sollte sich aber zeigen, daß beide nichts Tüchtiges vorbringen, so würden wir ja lächerlich sein, wenn wir, die wir ganz gewöhnliche Menschen sind, uns selbst zutrauten, etwas Rechtes zu sagen, und darüber jenen uralten und höchst weisen Männern abfällig würden. Sieh also zu, Theodoros, ob es geraten ist, uns in eine so große Gefahr hineinzubegeben?

Theodoros: Auf keine Weise, o Sokrates, wäre es ja jetzt noch zu ertragen, wenn wir nicht herausbringen wollten, inwiefern beide Teile wohl recht haben.

Sokrates: Wir müssen es also erforschen, da es dir so angelegen ist. Der Anfang der Untersuchung aber muß, wie mich dünkt, gemacht werden von der Bewegung, was doch eigentlich jene darunter verstehen, welche sagen, daß alles sich bewegt. Ich will nämlich dieses sagen, ob sie nur eine Art derselben verstehen oder, wie mir scheint, zwei. Nicht mir allein aber soll es so scheinen, sondern nimm du auch mit teil daran, damit wir hernach auch gemeinschaftlich leiden, was uns etwa begegnen soll! Und sage mir: Nennst du das Bewegung, wenn etwas einen Ort mit einem andern vertauscht oder auch in demselben Orte sich herumdreht?

[617] Theodoros: Das nenne ich so.

Sokrates: Das sei also die eine Art. Wenn aber etwas an demselben Orte zwar bleibt, dort aber altert oder schwarz wird, da es vorher weiß, hart wird, da es weich war, oder irgend eine andere Veränderung erleidet: verdient dies nicht eine andere Art der Bewegung zu heißen?

Theodoros: So scheint es mir.

Sokrates: Es kann nicht anders sein. Diese zwei Arten der Bewegung meine ich also: die Veränderung und den Ortswechsel.

Theodoros: Und ganz recht tust du daran.

Sokrates: Ist nun diese Einteilung gemacht, so laß uns dann mit denen reden, welche behaupten, es bewege sich alles, und sie fragen: Sagt ihr, alles bewege sich auf beiderlei Art, sowohl durch Orts vertauschung als durch Veränderung, oder einiges auf beiderlei, anderes nur auf einerlei Art?

Theodoros: Beim Zeus, ich weiß es nicht zu sagen; ich glaube aber, sie werden behaupten: auf beiderlei Art.

Sokrates: Wenigstens wenn nicht, o Freund, so müßte ihnen ja Bewegtes erscheinen und auch Feststehendes, und es wäre ja gar nicht richtiger zu sagen, daß alles sich bewegt, als daß alles feststeht.

Theodoros: Du sprichst vollkommen wahr.

Sokrates: Da nun alles sich bewegen und die Unbeweglichkeit in keinem Dinge anzutreffen sein soll, so muß alles sich immer mit jeder Bewegung bewegen?

Theodoros: Notwendig.

Sokrates: Ziehe nur auch dieses von ihnen in Erwägung: Sagten wir nicht, daß sie die Entstehung der Wärme oder der Röte oder was du sonst willst, ungefähr auf diese Art erklärten, jedes von diesen bewege sich während der Wahrnehmung zwischen dem Wirkenden und dem Leidenden, und das Leidende werde alsdann ein Wahrnehmbares, nicht aber eine Wahrnehmung, und das Wirkende ein Wie-beschaffenes, nicht aber eine Beschaffenheit. Doch Beschaffenheit ist dir vielleicht ein wunderliches Wort, und du verstehst es nicht so ganz im allgemeinen ausgedrückt. So höre es denn im einzelnen: Das Wirkende nämlich wird weder Wärme noch Röte, sondern ein Warmes, ein Rotes und so auch im übrigen. Denn du erinnerst[618] dich doch aus dem vorigen, daß wir so sagten, nichts sei an und für sich ein Bestimmtes, also auch nicht das Wirkende und Leidende, sondern nur durch beider Zusammenkunft die Wahrnehmung und das Wahrnehmbare erzeugend werde das eine ein Wie-beschaffenes, das andere ein Wahrnehmendes.

Theodoros: Ich erinnere mich dessen; wie sollte ich auch nicht?

Sokrates: Das übrige wollen wir nun beiseitelassen, ob sie es so oder anders meinen, und nur das eine, weshalb wir dieses jetzt besprechen, recht festhalten, indem wir sie fragen: Es bewegt sich alles und fließt, wie ihr sagt, nicht wahr?

Theodoros: Ja.

Sokrates: Und zwar nach beiden Bewegungen, die wir unterschieden haben, indem es den Ort vertauscht und sich verändert?

Theodoros: Wie sonst? Da es sich ja vollständig bewegen soll.

Sokrates: Wenn es nun nur den Ort wechselte, sich aber nicht veränderte, dann könnten wir doch noch sagen, was denn eigentlich seinen Ort wechselnd fließt. Oder wie sollen wir sagen?

Theodoros: Gerade so.

Sokrates: Da aber auch dieses nicht einmal beharrt, daß das Fließende rot fließt, sondern gleichfalls wechselt, so daß es auch von ebendiesem der Röte einen Fluß gibt und Übergang zu einer andern Farbe, damit es nicht auf diese Art als ein Beharrendes ertappt werde, – ist es nun wohl möglich, daß man etwas als eine gewisse Farbe benennt, so daß man es richtig benenne?

Theodoros: Wie sollte man wohl, o Sokrates, und ebenso irgend etwas Ähnliches, da ja alles dem Redenden unter den Händen entschlüpft, weil es immer fließend ist?

Sokrates: Und was sollen wir sagen von der Wahrnehmung welcher Art du immer willst, wie vom Sehen oder Hören? Daß sie je darin verharre im Sehen oder Hören?

Theodoros: Wir dürfen es nicht, weil ja alles sich bewegt.

Sokrates: Man darf also nicht mit größerem Rechte etwas ein Sehen nennen als ein Nichtsehen, und ebenso mit jeder andern Wahrnehmung, da ja alles auf alle Weise sich bewegt.

Theodoros: Freilich nicht.

[619] Sokrates: Nun aber ist Wahrnehmung Erkenntnis, wie wir beide gesagt haben, Theaitetos und ich.

Theodoros: So war es.

Sokrates: Wir haben also, als wir gefragt wurden, was Erkenntnis wäre, durch etwas geantwortet, was nicht mehr und eigentlicher Erkenntnis ist als Nicht-Erkenntnis.

Theodoros: So scheint es euch ergangen zu sein.

Sokrates: Herrlich ist uns also die Befestigung unserer Antwort geraten, da wir zu zeigen suchten, es bewege sich alles, damit eben hierdurch jene Antwort als die richtige erschiene. Denn nun hat sich, wie es scheint, gezeigt, daß, wenn alles sich bewegt, jede Antwort, worauf auch jemand zu antworten habe, man sage nun, es verhalte sich so oder nicht so, gleich richtig ist oder vielmehr wird, damit wir nicht doch noch dieses als beharrlich vorstellen in unserer Rede. Theodoros; Du sagst ganz recht.

Sokrates: Ausgenommen, Theodoros, daß ich »so« gesagt habe und »nicht so«. Denn auch dieses »so« darf man nicht sagen, weil das »so« sich nicht bewegt; noch auch »nicht so«, denn auch das wäre keine Bewegung; sondern die, welche diesen Satz behaupten, müssen eine andere Sprache dafür einführen; denn bis jetzt noch gibt es für ihre Voraussetzung keine Worte, es müßte etwa sein das »auf keine Weise«; so möchte es ihnen noch am ehesten zusagen, ganz unbestimmt ausgedrückt.

Theodoros: Dies wäre freilich ihre angemessenste Redensart.

Sokrates: So hätten wir also, o Theodoros, einerseits deinen Freund nun abgefertigt und geben ihm immer noch nicht zu, daß jeder das Maß aller Dinge sein soll, wenn einer nämlich nicht weise und verständig ist; andererseits werden wir, daß Erkenntnis Wahrnehmung sei, nicht zugeben, nämlich nach der Lehre von der Beweglichkeit aller Dinge. Es müßte denn Theaitetos hier noch etwas anderes sagen. Theodoros: Vortrefflich gesprochen, Sokrates! Denn da dieses zu Ende gebracht ist, so muß auch ich abgefertigt sein als Antwortender, nach dem Vertrage, wenn die Verhandlung über den Satz des Protagoras ihr Ende erreicht haben würde.

Theaitetos: Nicht eher jedoch, o Theodoros, bis Sokrates mit[620] dir auch diejenigen, welche dagegen behaupten, daß das Ganze stehe, durchgegangen ist, wie ihr euch eben vorgenommen habt.

Theodoros: So jung noch, Theaitetos, und lehrst schon die Alten Unrecht tun und Verträge übertreten? Nein, sondern rüste du dich, wie du für das übrige dem Sokrates Antwort geben willst!

Theaitetos: Wenn er es so will. Am liebsten jedoch hätte ich das gehört, was ich eben sagte.

Theodoros: Das heißt Reiter in die Ebene locken, wenn man den Sokrates auf Reden herausfordert. Frage ihn nur, und du wirst es wohl erfahren.

Sokrates: Dennoch dünkt mich, o Theodoros, daß ich dem Theaitetos in seinem Begehren nicht willfahren werde.

Theodoros: Warum ihm nicht willfahren?

Sokrates: Den Melissos zwar und die anderen, welche sagen, das Ganze sei ein Unbewegliches, scheue ich, daß wir sie nicht etwas täppisch mustern, minder jedoch scheue ich sie als den einen Parmenides. Parmenides aber ist nach dem Homeros ehrwürdig mir und furchtbar zugleich. Denn ich habe Gemeinschaft mit dem Manne gehabt noch ganz jung, da er schon alt war, und es offenbarte sich mir in ihm eine ganz seltene und herrliche Tiefe des Geistes. Ich fürchte daher, daß wir teils, was er gesagt, nicht verstehen, teils, was er damit gemeint, noch viel weiter dahinten lassen werden, und, was noch mehr ist, daß dasjenige, weshalb unsere Rede so weit gegangen ist, nämlich von der Erkenntnis, was sie ist, unausgemacht bleiben werde wegen aller herzuströmenden Fragen, wenn man sie hören will, – zumal auch schon die unübersehlich vielfältige, die wir jetzt aufgerührt haben, wenn man sie nur beiläufig untersuchen will, Ungebühr leiden wird, wenn man sie aber hinreichend ausführt, die von der Erkenntnis verdrängen wird. Beides aber darf nicht sein, sondern wir müssen versuchen, den Theaitetos dessen, womit er schwanger ist über die Erkenntnis, durch unsere geburtshelferische Kunst zu entbinden.

Theodoros: Wohlan, wenn es dir gut dünkt, müssen – wir es also tun.

Sokrates: So erwäge denn, o Theaitetos, was das bisher Gesagte betrifft, auch noch dieses: Wahrnehmung sei Erkenntnis, hattest du geantwortet. Nicht wahr?

[621] Theaitetos: Ja.

Sokrates: Wenn nun jemand dich so fragte: »Womit doch sieht der Mensch das Weiße und Schwarze, und womit hört er das Hohe und Tiefe?« – würdest du, glaube ich, sagen: »Mit den Augen und Ohren«.

Theaitetos: Ich gewiß.

Sokrates: Es mit Worten aller Art nicht so genau nehmen und sie nicht mit Spitzfindigkeit aussondern, das ist größtenteils gar nicht unfein; sondern vielmehr das Gegenteil davon hat etwas Unfreies und Knechtisches, nur ist es bisweilen doch notwendig. So ist es auch jetzt nötig, die Antwort, die du gegeben hast, dabei anzugreifen, inwiefern sie nicht richtig ist. Denn betrachte selbst, welche Antwort richtiger ist, ob das, womit wir sehen, die Augen sind, oder das, vermittelst dessen, und das, womit wir hören, die Ohren, oder das, vermittelst dessen?

Theaitetos: Vermittelst dessen wir jegliches wahrnehmen, dünkt mich besser als womit.

Sokrates: Arg wäre es auch, Sohn, wenn diese mancherlei Wahrnehmungen wie im hölzernen Pferde in uns nebeneinanderlägen und nicht alle in irgend einem (du magst es nun Seele oder wie sonst immer nennen) zusammenliefen, mit der wir dann vermittelst jener, daß ich so sage, Werkzeuge wahrnehmen, was nur wahrnehmbar ist.

Theaitetos: Darum dünkt mich auch dieses besser als jenes.

Sokrates: Weshalb aber führe ich dich darauf so genau, ob wir mit einem und demselben in uns vermittelst jetzt der Augen das Weiße und Schwarze, dann vermittelst der andern Sinne wieder anderes auffassen, und ob du nicht, befragt, alle diese auf den Körper zurückführen würdest? Doch es ist vielleicht besser, daß du selbst dies beantwortest und erklärst, als daß ich mich für dich in Weitläufigkeit einlasse. So sage mir denn: Das, vermittelst dessen du Warmes, Hartes, Leichtes, Süßes wahrnimmst, setzest du dies nicht alles als zum Leibe gehörig? Oder als zu einem andern gehörig?

Theaitetos: Zu keinem andern.

Sokrates: Wirst du auch wohl zugeben wollen, daß du dasjenige, was du vermittelst des einen Vermögens wahrnimmst, unmöglich vermittelst eines andern wahrnehmen könntest, als[622] was vermittelst des Gesichtes, das nicht vermittelst des Gehörs, und was vermittelst des Gehörs, das nicht vermittelst des Gesichtes?

Theaitetos: Wie sollte ich nicht wollen?

Sokrates: Wenn du also über beides etwas denkst, so kannst du dies weder mittelst des eines Werkzeuges noch auch mittelst des andern von beiden wahrgenommen haben?

Theaitetos: Freilich nicht.

Sokrates: Von dem Tone nun und von der Farbe, denkst du nicht von diesen beiden zuerst dieses, daß sie beide sind?

Theaitetos: Das denke ich.

Sokrates: Nicht auch, daß jedes von beiden vom andern verschieden, mit sich selbst aber einerlei ist?

Theaitetos: Freilich.

Sokrates: Und daß sie beide zusammen zwei sind, jedes von beiden aber eins?

Theaitetos: Auch dieses.

Sokrates: Bist du nicht auch imstande, mögen sie nun einander ähnlich sein oder unähnlich, dies zu erforschen?

Theaitetos: Vielleicht.

Sokrates: Dieses alles nun, vermittelst wessen denkst du es von ihnen? Denn weder vermittelst des Gesichtes noch vermittelst des Gehörs ist es dir möglich, das Gemeinschaftliche von ihnen aufzufassen. Auch dies ist noch ein Beweis mehr für das, was wir sagen. Nämlich wenn es möglich wäre zu untersuchen, ob beide salzig sind, so weißt du doch, was du sagen würdest, womit du es untersuchtest, und das ist offenbar weder das Gesicht noch das Gehör, sondern etwas anderes. Theaitetos: Wie sollte es nicht? Nämlich der vermittelst der Zunge sich äußernde Sinn.

Sokrates: Ganz recht. Vermittelst wessen wirkt denn nun dasjenige Vermögen, welches dir das in allen und auch in diesen Dingen Gemeinschaftliche offenbart, womit du von ihnen das Sein oder Nichtsein aussagst und das, wonach ich jetzt eben fragte? Für dies alles, was für Werkzeuge willst du annehmen, vermittelst deren unser Wahrnehmendes jedes davon wahrnimmt?

Theaitetos: Du meinst ihr Sein und Nichtsein, ihre Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, Einerleiheit und Verschiedenheit,[623] ferner ob sie eins sind oder eine andere Zahl. Offenbar begreifst du darunter auch die Frage nach dem Geraden und Ungeraden und was damit zusammenhängt, vermittelst welcher Teile des Körpers nämlich wir dies mit der Seele wahrnehmen.

Sokrates: Ganz vortrefflich, o Theaitetos, folgst du mir; denn dies ist es eben, wonach ich frage.

Theaitetos: aber, beim Zeus, Sokrates, dies wüßte ich nicht zu sagen, außer daß es mir scheint, als gäbe es überall gar nicht ein solches besonderes Werkzeug für dieses wie für jenes, sondern die Seele scheint mir vermittelst ihrer selbst das Gemeinschaftliche in allen Dingen zu erforschen.

Sokrates: Schön bist du, Theaitetos, und gar nicht, wie Theodoros sagt, häßlich; denn wer so schön spricht, der ist schön und gut. Außerdem aber, daß dieses schön gesagt war, hast du auch mir eine große Wohltat erwiesen, indem du mir über vieles Reden hinweggeholfen hast, wenn es dir einleuchtet, daß einiges die Seele selbst vermittelst ihrer selbst erforscht, anderes aber vermittelst der verschiedenen Vermögen des Körpers. Denn eben dieses war es, was ich selbst meinte, und wovon ich wünschte, du möchtest es auch meinen. Theaitetos: Gar sehr leuchtet es mir ein.

Sokrates: Zu welchem von beiden rechnest du nun das Sein? Denn dies ist es doch, was am meisten bei allem vorkommt?

Theaitetos: Zu dem, was die Seele selbst durch sich selbst aufsucht.

Sokrates: Wohl auch so die Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, das Einerleisein und das Verschiedensein?

Theaitetos: Ja.

Sokrates: Und wie das Schöne und Schlechte, das Gute und Böse?

Theaitetos: Auch hiervon besonders dünkt mich die Seele das Verhalten gegen einander zu erforschen, indem sie bei sich selbst das Geschehene und Gegenwärtige in Verhältnis setzt mit dem Künftigen.

Sokrates: Halt einmal! Wird sie nicht die Härte des Harten und die Weichheit des Weichen vermittelst des Tastsinnes wahrnehmen?

Theaitetos: Ja.

Sokrates: aber das Sein von beiden, und was sie sind, und[624] ihre Gegensetzung gegen einander und das Wirklichsein dieser Entgegensetzung, dies versucht also unsere Seele selbst durch Betrachtung und Vergleichung zu beurteilen?

Theaitetos: Allerdings.

Sokrates: Nicht wahr, jenes wahrzunehmen, was irgend für Eindrücke durch den Körper zur Seele gelangen, das eignet schon Menschen und Tieren von Natur, sobald sie geboren sind. Allein zu den Schlüssen hieraus auf das Sein und den Nutzen gelangen nur schwer mit der Zeit und durch viele Mühe und Unterricht die, welche überall dazu gelangen?

Theaitetos: So ist es allerdings.

Sokrates: Kann nun wohl dasjenige das wahre Wesen von etwas erreichen, was nicht einmal sein Dasein erreicht?

Theaitetos: Unmöglich.

Sokrates: Wovon man aber das wahre Wesen nicht erreicht, kann man davon Erkenntnis haben?

Theaitetos: Wie könnte man doch, Sokrates?

Sokrates: In jenen Eindrücken also ist keine Erkenntnis, wohl aber in den Schlüssen daraus. Denn das Sein und das wahre Wesen zu erreichen, ist, wie es scheint, nur durch diese möglich, durch jene aber unmöglich.

Theaitetos: Das leuchtet ein.

Sokrates: Willst du nun jenes und dieses dasselbe nennen, da beides so große Verschiedenheiten zeigt?

Theaitetos: Das scheint wohl nicht billig.

Sokrates: Welchen Namen nun legst du jenen bei, dem Sehen, Hören, Riechen, Frieren, Warmsein?

Theaitetos: Wahrnehmen nenne ich es. Denn wie anders?

Sokrates: Insgesamt also nennst du dies Wahrnehmung.

Theaitetos: Natürlich.

Sokrates: Welcher, wie wir gesagt haben, nicht verliehen ist, bis zum wahren Wesen zu gelangen, da sie ja auch nicht bis zum Sein gelangt?

Theaitetos: Nicht verliehen.

Sokrates: Also auch nicht zur Erkenntnis?

Theaitetos: Nicht füglich.

Sokrates: Auf keine Weise also, o Theaitetos, wäre Wahrnehmung und Erkenntnis dasselbe.

Theaitetos: Es scheint nicht; vielmehr ist es jetzt vollkommen[625] deutlich geworden, daß die Erkenntnis etwas anderes ist als die Wahrnehmung.

Sokrates: aber wir haben ja doch nicht deshalb angefangen, uns zu unterreden, um zu finden, was die Erkenntnis nicht ist, sondern was sie ist. Indes sind wir doch nun wenigstens so weit vorgeschritten, daß wir sie ganz und gar nicht unter der Wahrnehmung suchen wollen, sondern unter demjenigen Namen, den die Seele führt, wenn sie sich für sich selbst mit dem, was ist, beschäftigt.

Theaitetos: Dieses, o Sokrates, wird ja, glaube ich, das Vorstellen genannt.

Sokrates: Ganz recht glaubst du, Lieber, und nun sieh wieder von vorn, nach Auslöschung alles Vorigen, ob du nun mehr siehst, da du doch bis hierher vorgedrungen bist, und sage noch einmal, was wohl die Erkenntnis ist?

Theaitetos: Zu sagen, daß alle Vorstellung es sei, o Sokrates, ist unmöglich, indem es auch falsche Vorstellungen gibt. Es mag aber wohl die richtige Vorstellung Erkenntnis sein; und dieses will ich nun geantwortet haben. Denn sollte es uns, wenn wir weiter gehen, nicht mehr so scheinen, so wollen wir, wie jetzt auch, dann versuchen, etwas anderes zu sagen.

Sokrates: Das ist recht, Theaitetos, und so muß man etwas mutiger reden, als du anfänglich nur allzu bedenklich warst zum Antworten. Machen wir es so, so werden wir eins von beiden: entweder das finden, worauf wir ausgehen, oder nicht so sehr glauben, dasjenige zu wissen, was wir keineswegs wissen. Und auch ein solcher Preis wäre schon nicht zu verschmähen. Wie meinst du es aber jetzt? Von zwei Arten der Vorstellung, deren die eine die wahre ist, die andere die falsche, erklärst du die wahre für die Erkenntnis?

Theaitetos: Das tue ich; denn dies leuchtet mir für jetzt ein.

Sokrates: Sollen wir über die Vorstellung noch einmal weiter zurückgehen?

Theaitetos: Worauf meinst du nur?

Sokrates: Es beunruhigt mich jetzt sowohl als auch sonst schon oft so, daß ich in großer Verlegenheit deshalb bei mir selbst und auch vor andern gewesen bin, daß ich nämlich nicht zu sagen weiß, was für ein Ereignis doch dieses in uns ist, und wie es uns entsteht.

[626] Theaitetos: Welches denn?

Sokrates: Daß jemand falsch vorstellt. Und auch jetzt überlege ich noch zweifelhaft, ob wir es so lassen, oder ob wir es auf eine andere Art als vor kurzem nochmals in Erwägung nehmen.

Theaitetos: Warum nicht, Sokrates, wenn es dir nur im mindesten nötig scheint. Denn gar nicht schlecht habt ihr vorher über die Muße geredet, du und Theodoros, daß uns nichts drängt in dergleichen Dingen.

Sokrates: Ganz recht erinnerst du mich. Vielleicht ist es nicht übel getan, die Spur noch einmal zu verfolgen. Denn es ist besser, ein weniges gut, als vieles ungenügend zu vollbringen.

Theaitetos: Allerdings.

Sokrates: Wie nun, was sagen wir eigentlich; Behaupten wir, daß je eine Vorstellung wirklich falsch sei, und daß der eine von uns falsch vorstelle, der andere richtig, so daß sich dies in der Natur so verhalte?

Theaitetos: Das behaupten wir freilich.

Sokrates: Nun findet sich doch dies bei uns in allen Dingen und in jedem einzelnen, daß wir darum wissen oder daß wir nicht darum wissen. Denn das Lernen und Vergessen als zwischen beiden befindlich will ich für jetzt liegen lassen, weil es uns jetzt gar nicht zur Sache gehört.

Theaitetos: Dann freilich, Sokrates, bleibt nichts übrig für jede Sache, als darum zu wissen oder nicht darum zu wissen.

Sokrates: Ist es nun nicht notwendig, daß, wer vorstellt, entweder von dem etwas vorstelle, wovon er weiß, oder wovon er nicht weiß?

Theaitetos: Notwendig.

Sokrates: Daß aber, wer etwas weiß, dasselbe auch nicht wisse, oder wer nicht weiß, doch wisse, ist doch unmöglich.

Theaitetos: Wie sollte es nicht?

Sokrates: Also wer das falsch vorstellt, wovon er weiß, der glaubt wohl, daß es nicht dieses ist, sondern etwas anderes, um welches er auch – weiß, und um beides – wissend kennt er auch wieder beides nicht?

Theaitetos: Aber das ist ja unmöglich, Sokrates!

Sokrates: Oder das, wovon er nicht weiß, hält er wohl für irgend anderes, wovon er ebenfalls nicht weiß, und das hieße,[627] jemandem, der weder vorn Sokrates weiß noch vom Theaitetos, käme in den Sinn, Sokrates wäre Theaitetos oder Theaitetos Sokrates?

Theaitetos: Aber wie ginge das?

Sokrates: Doch wird auch niemand glauben, etwas wovon er weiß, sei etwas, wovon er nicht weiß, noch auf der andern Seite, wovon er nicht weiß, das sei etwas, wovon er weiß.

Theaitetos: Ein Wunder wäre ja das.

Sokrates: Wie soll also noch einer falsch vorstellen? Denn außer diesem ist es doch unmöglich, etwas vorzustellen, da wir ja von allem entweder wissen oder nicht wissen, und hierin scheint es unmöglich, irgendwie falsch vorzustellen.

Theaitetos: Sehr wahr.

Sokrates: Wollen wir nun etwa lieber nicht auf die Art dem nachdenken, was wir suchen, daß wir auf das Wissen oder Nichtwissen gehn, sondern auf das Sein oder Nichtsein?

Theaitetos: Wie meinst du das?

Sokrates: Ob nicht etwa schlechthin der, wer von irgend einer Sache das, was nicht ist, vorstellt, auf jeden Fall falsch vorstellt, wie es auch übrigens in seiner Seele stehen mag.

Theaitetos: Das hat wieder einen guten Anschein, Sokrates.

Sokrates: Wie aber? Was werden wir sagen, Theaitetos, wenn uns jemand fragt: »Ist das auch irgend einem möglich, was ihr sagt? Und kann wohl einer das, was nicht ist, vorstellen, sei es nun an und von irgend etwas, oder an und für sich selbst?« Darauf werden wir, wie es scheint, sagen müssen: »Wenn er nicht das Wahre glaubt, indem er etwas glaubt.« Oder was wollen wir sagen?

Theaitetos: Eben dies.

Sokrates: Findet denn aber auch anderwärts dieses nämliche statt?

Theaitetos: Was denn?

Sokrates: Ob wohl jemand sieht und doch nichts sieht?

Theaitetos: Wie könnte er?

Sokrates: Wenn er nun aber ein Etwas sieht, so sieht er auch Wirkliches. Oder glaubst du, das Etwas könne je zu dem Nichtwirklichen gehören?

Theaitetos: Ich keineswegs.

Sokrates: Wer also Etwas sieht, der sieht auch Wirkliches.

[628] Theaitetos: So scheint es.

Sokrates: Und ebenso wer hört, hört Etwas und Wirkliches?

Theaitetos: Ja.

Sokrates: Und wer betastet, der betastet Etwas, und wenn Etwas, auch Wirkliches.

Theaitetos: Auch das.

Sokrates: Und wer vorstellt, der sollte nicht Etwas vorstellen?

Theaitetos: Notwendig.

Sokrates: Und wer Etwas vorstellt, nicht Wirkliches? Theaitetos: Ich gebe es zu.

Sokrates: Wer also vorstellt, was nicht ist, der stellt nichts vor?

Theaitetos: So scheint es.

Sokrates: Wer aber nichts vorstellt, der wird gewiß überhaupt gar nicht vorstellen?

Theaitetos: Offenbar, wie wir sehen.

Sokrates: So ist es demnach nicht möglich, das, was nicht ist, vorzustellen, weder von etwas, das ist, noch auch an und für sich?

Theaitetos: Es scheint nicht.

Sokrates: Also muß falsch vorstellen etwas anderes sein als vorstellen, was nicht ist.

Theaitetos: Etwas anderes, so scheint es.

Sokrates: Weder auf diese Art also, noch so, wie wir es vorher aufgefaßt hatten, gibt es eine falsche Vorstellung in uns.

Theaitetos: Nein, freilich nicht.

Sokrates: Sondern etwa so wollen wir aussagen, daß dieses geschehe…?

Theaitetos: Wie denn?

Sokrates: Als eine verwechselte Vorstellung finde falsche Vorstellung statt, wenn jemand etwas Wirkliches mit einem andern Wirklichen in Gedanken vertauschend sagt, jenes sei dieses. Denn so stellt er immer etwas Wirkliches vor, aber eines statt des andern, und indem er das verfehlt, worauf er zielte, kann man mit Recht sagen, daß er falsch vorstellt.

Theaitetos: Jetzt scheinst du mir vollkommen richtig gesprochen zu haben. Denn wenn sich jemand etwas anstatt schön häßlich oder anstatt häßlich schön vorstellt, dann hat er wirklich falsch vorgestellt.

[629] Sokrates: Offenbar, Theaitetos, behandelst du mich sehr obenhin und fürchtest mich gar nicht mehr.

Theaitetos: Wieso denn?

Sokrates: Du glaubst gar nicht, denke ich, daß ich dieses »wirklich falsch« aufgreifen und dich fragen werde, ob es wohl möglich ist, daß langsamschnell, oder leicht schwer, oder irgend eines von zwei Entgegengesetzten nicht nach seiner eignen, sondern nach der Natur seines Gegensatzes und sich selbst entgegengesetzt werden könne. Doch dieses will ich gehen lassen, damit du nicht vergeblich dreist gewesen bist. Es gefällt dir aber, wie du sagst, daß falsch vorstellen ein verwechseltes Vorstellen sein soll?

Theaitetos: Mir ja.

Sokrates: Es ist also deiner Meinung nach möglich, etwas als ein anderes und nicht als jenes in Gedanken zu setzen.

Theaitetos: Das ist es auch.

Sokrates: Wenn dies nun jemandes Seele tut, so muß sie doch notwendig entweder beides oder das eine denken?

Theaitetos: Notwendig.

Sokrates: Entweder zugleich oder nacheinander?

Theaitetos: Sehr schön.

Sokrates: Und Denken, verstehst du darunter eben das wie ich?

Theaitetos: Was verstehst du darunter?

Sokrates: Eine Rede, welche die Seele bei sich selbst durchgeht über dasjenige, was sie erforschen will. Freilich nur als ein Nichtwissender kann ich es dir beschreiben. Denn so schwebt sie mit vor, daß, solange sie denkt, sie nichts anders tut als sich unterreden, indem sie sich selbst antwortet, bejaht und verneint. Wenn sie aber langsamer oder auch schneller zufahrend nun etwas feststellt und auf derselben Behauptung beharrt und nicht mehr zweifelt, dies nennen wir dann ihre Vorstellung. Darum sage ich: das Vorstellen ist ein Reden, und die Vorstellung ist eine gesprochene Rede, nicht zu einem andern und mit der Stimme, sondern stillschweigend zu sich selbst. Wie aber du?

Theaitetos: Ich auch so.

Sokrates: Wenn also jemand eins als das andere vorstellt, so sagt er auch, wie es scheint, zu sich selbst, das eine sei das andere?

[630] Theaitetos: Wie sonst?

Sokrates: So erinnere dich doch, ob du wohl jemals zu dir selbst gesagt hast, das Schöne sei doch ganz gewiß häßlich und das Ungerechte gerecht, oder auch, was die Summe von allem ist, bedenke, ob du wohl jemals auch nur versucht hast, dich selbst zu überreden, das eine sei doch gewiß das andere? Oder ob nicht vielmehr ganz im Gegenteil dir nicht einmal im Schlaf eingefallen ist, zu dir selbst zu sagen, daß doch ganz gewiß ungerade gerade wäre oder etwas dergleichen?

Theaitetos: Du hast recht.

Sokrates: Und glaubst du, daß irgend ein anderer bei gesundem Verstande oder auch gar ein Wahnwitziger das Herz habe, ausdrücklich zu sich selbst zu sagen, daß der Ochse doch gewiß ein Pferd wäre, oder zwei eins?

Theaitetos: Beim Zeus, ich glaube es nicht.

Sokrates: Wenn also das zu sich selbst Reden Vorstellen heißt, so wird keiner, der beides aussagt und vorstellt und mit seiner Seele beides aufnimmt, jemals sagen und vorstellen, als ob eins das andere wäre. Und auch du mußt jenes Wort von dem einen anstatt des andern fahren lassen; denn ich sage wiederum, so stelle niemand vor, daß das Häßliche schön sei oder etwas dergleichen.

Theaitetos: Ich lasse es fahren, und es dünkt mich so, wie du sagst.

Sokrates: Wer also beides vorstellt, dem ist es unmöglich, eins als das andere vorzustellen.

Theaitetos: So scheint es.

Sokrates: Wer aber nur das eine von beiden vorstellt, das andere aber ganz und gar nicht, der kann doch gewiß niemals vorstellen, daß das eine das andere sei.

Theaitetos: Du hast recht. Denn er müßte sonst etwas zugleich mit aufnehmen, was er gar nicht vorstellt.

Sokrates: Weder also, wer beides vorstellt, noch, wer nur das eine vorstellt, kann verwechselt vorstellen; so daß, wer die Erklärung geben will, falsche Vorstellungen wären verwechselte Vorstellungen, unrecht hat. Denn weder auf diese noch auf die vorher erwähnte Art scheint eine falsche Vorstellung in uns sein zu können.

Theaitetos: Es scheint nicht.

[631] Sokrates: Jedoch, Theaitetos, wenn sich diese gar nicht zeigen will als wirklich, so werden wir gezwungen werden, sehr viel unstatthafte Dinge zuzugeben.

Theaitetos: Was für welche doch?

Sokrates: Das will ich dir nicht eher sagen, als bis ich auf jede mögliche Art versucht habe, die Sache zu erforschen. Denn ich würde mich schämen für uns, wenn wir während dieser Verlegenheit gezwungen würden einzuräumen, was ich meine. Werden wir es aber gefunden und uns freigemacht haben, dann wollen wir, selbst in Sicherheit gestellt gegen das Gelächter, davon reden in Beziehung auf die andern, wie es denen dabei ergehen muß. Müssen wir aber jede Hoffnung aufgeben, dann wollen wir uns, meine ich, demütig dem Satz hingeben, wie Seekranke uns zu treten und mit uns zu machen, was er will. So höre denn, was für einen Ausweg ich noch sehe bei unserer Frage!

Theaitetos: Sage nur!

Sokrates: Ich will leugnen, daß wir recht hatten, als wir einräumten, wovon jemand wisse, davon sei ihm unmöglich vorzustellen, daß es etwas sei, wovon er nicht weiß; sondern dies ist allerdings auf gewisse Weise möglich.

Theaitetos: Meinst du etwa das, wovon auch ich damals, als wir dies abhandelten, vermutete, es gehöre hierher, daß bisweilen ich, der ich den Sokrates kenne, von fern bei Erblickung eines andern, den ich nicht kenne, glauben kann, es sei Sokrates, von dem ich doch weiß? Denn ich diesem Falle geschieht, was du sagst.

Sokrates: Waren wir aber nicht davon abgestanden, weil daraus folgt, daß wir etwas, wovon wir wissen, indem wir davon wissen, zugleich auch nicht wissen?

Theaitetos: Allerdings.

Sokrates: Laß es uns also nicht so aufstellen, sondern so: Vielleicht wird man es uns so zugeben, vielleicht auch sich wieder dagegen sträuben; allein wir sind in einem solchen Gedränge, daß wir notwendig jede Rede noch einmal umdrehn und prüfen müssen. Sieh also zu, ob ich recht habe: Ist es möglich, etwas, was man vorher nicht weiß, nachher zu lernen?

Theaitetos: Das ist es freilich.

[632] Sokrates: Also auch ein andermal anderes und wieder anderes?

Theaitetos: Wie sollte es nicht?

Sokrates: So setze mir nun, damit wir doch ein Wort haben, in unsern Seelen einen wächsernen Guß, welcher Abdrücke aufnehmen kann, bei dem einen größer, bei dem andern kleiner, bei dem einen von reinerem Wachs, bei dem andern von schmutzigerem, auch härter bei einigen und bei andern feuchter, bei einigen auch gerade so, wie er sein muß.

Theaitetos: Ich setze ihn.

Sokrates: Dieser, wollen wir sagen, sei ein Geschenk von der Mutter der Musen, Mnemosyne; und wessen wir uns erinnern wollen von dem Gesehenen oder Gehörten oder auch selbst Gedachten, das drücken wir in diesen Guß ab, indem wir ihn den Wahrnehmungen und Gedanken unterhalten, wie beim Siegeln mit dem Gepräge eines Ringes. Was sich nun abdrückt, dessen erinnern wir uns und wissen es, solange nämlich sein Abbild vorhanden ist. Hat sich aber dieses verlöscht oder hat es gar nicht abgedruckt werden können, so vergessen wir die Sache und wissen sie nicht.

Theaitetos: So soll es sein.

Sokrates: Wer nun auf diese Art weiß und dann etwas betrachtet, was ersieht oder hört, sieh zu, ob der nun auf folgende Weise falsch vorstellen kann…

Theaitetos: Auf welche denn?

Sokrates: Indem er etwas, wovon er weiß, bisweilen für etwas hält, wovon er weiß, bisweilen für etwas, wovon er nicht weiß. Denn daß dies unmöglich sei, haben wir im vorigen nicht recht gehabt einzuräumen.

Theaitetos: Was sagst du denn jetzt davon?

Sokrates: So muß man davon reden, indem man die Sache gleich von Anfang an näher bestimmt: Wovon jemand weiß, indem er dessen Denkmal in der Seele hat, was er aber nicht wahrnimmt, dieses für ein anderes zu halten, wovon er ebenfalls weiß, indem er ebenfalls dessen Abdruck hat, was er aber ebenfalls nicht wahrnimmt, – dies ist unmöglich. Wiederum etwas, wovon er weiß, für etwas zu halten, wovon er nicht weiß, und wovon er auch kein Gepräge hat; ebenso, wovon er nicht weiß, für ein anderes, wovon er auch nicht weiß, oder[633] etwas, wovon er nicht weiß, für etwas, wovon er weiß; ferner etwas, das er doch wahrnimmt, für ein anderes zu halten, das er ebenfalls wahrnimmt, oder, was er wahrnimmt, für etwas, was er nicht wahrnimmt, oder, was er nicht wahrnimmt, für ein anderes, was er auch nicht wahrnimmt, oder auch, was er nicht wahrnimmt, für etwas, das er wahrnimmt; ferner auch das, wovon er weiß und es wahrnimmt, indem er zugleich ein der Wahrnehmung gemäßes Abzeichen davon hat, dieses für ein anderes zu halten, wovon er ebenfalls weiß und es wahrnimmt, indem er ebenfalls zugleich ein der Wahrnehmung gemäßes Abzeichen davon hat, – das ist, wenn es sein kann, noch unmöglicher als jenes. Ferner, was er weiß und wahrnimmt, ein richtiges Denkmal davon habend, für ein anderes zu halten, wovon er weiß, ist ebenfalls unmöglich; und wovon er weiß unter derselben Voraussetzung und es wahrnimmt für ein anderes, das er wahrnimmt; ebenso, wovon er weder weiß noch es wahrnimmt, dies für ein anderes, wovon er weder weiß noch es wahrnimmt; oder wovon er weder weiß noch es wahrnimmt, für etwas, wovon er nicht weiß; oder etwas, wovon er weder weiß noch es wahrnimmt, für etwas, das er nicht wahrnimmt, – in allen diesen Fällen ist ein Übermaß von Unmöglichkeit, daß jemand darin falsch vorstellen sollte. Es bleibt also nur übrig, wenn irgendwo, daß in folgenden Fällen so etwas geschehe…

Theaitetos: In welchen nur wohl? Ob ich vielleicht durch sie der Sache besser innewerde? Denn jetzt freilich folge ich gar nicht.

Sokrates: Daß er das, wovon er weiß, für etwas anderes halte, wovon er auch weiß und was er eben wahrnimmt; oder auch für etwas, wovon er nicht weiß, das er aber wahrnimmt; oder endlich etwas, das er wahrnimmt und wovon er weiß, für ein anderes, das er auch wahrnimmt und wovon er weiß.

Theaitetos: Nun bleibe ich noch viel weiter zurück als vorher.

Sokrates: So höre es noch einmal auf diese Art: Ich der ich vom Theodoros weiß und mich bei mir selbst erinnere, wie er beschaffen ist, und ebenso auch vom Theaitetos, sehe sie doch nur bisweilen und dann wieder nicht, betaste sie und dann wieder nicht? Ebenso bisweilen höre ich euch oder nehme euch[634] auf eine andere Art wahr; dann aber habe ich auch wieder ganz und gar keine Wahrnehmung von euch, erinnere mich aber eurer nichtsdestoweniger und kenne euch bei mir selbst?

Theaitetos: So ist es allerdings.

Sokrates: Merke also von dem, was ich sagen will, zuerst dieses, daß man dasjenige, wovon man bereits weiß, bisweilen nicht wahrnimmt, bisweilen auch wieder wahrnimmt.

Theaitetos: Richtig.

Sokrates: Kann man nicht auch ebenso das, wovon man nicht weiß, bisweilen auch nicht einmal wahrnehmen, dann wieder nur wahrnehmen?

Theaitetos: Auch das verhält sich so.

Sokrates: So sieh nur, ob du mir jetzt besser folgst: Sokrates kennt den Theodoros und Theaitetos, sieht aber keinen von beiden, noch auch kommt ihm irgend eine andere Wahrnehmung von ihnen zu; niemals wird er sich in diesem Falle vorstellen, als ob Theaitetos Theodoros wäre. Habe ich recht oder nicht?

Theaitetos: O ja, ganz recht.

Sokrates: Dies war das erste unter dem, was ich aufgestellt habe.

Theaitetos: So war es.

Sokrates: Das zweite nun war, daß, wenn ich den einen von euch kenne, den andern aber nicht kenne und keinen von beiden wahrnehme, ich dann nie auf den Gedanken kommen kann, der, von dem ich weiß, sei der, von dem ich nicht weiß.

Theaitetos: Richtig.

Sokrates: Das dritte war, daß, wenn ich von keinem von beiden weiß noch auch sie wahrnehme, ich ebenfalls nicht glauben kann, der eine, von dem ich nicht weiß, sei der andere, von dem ich ebenfalls nicht weiß. Und so nimm an, du habest der Reihe nach noch einmal auf diese Art gehört alle die vorigen Fälle, in denen ich auf keine Weise in Hinsicht auf dich und den Theodoros falsch vorstellen kann, sowohl unter der Voraussetzung, daß ich euch beide kenne, als unter der Voraussetzung, daß ich euch beide nicht kenne, und unter der Voraussetzung, daß ich den einen von euch kenne, den andern aber nicht. Ebenso nun mit den Wahrnehmungen, wenn du jetzt folgst.

[635] Theaitetos: Jetzt folge ich.

Sokrates: Es bleibt also die Möglichkeit, falsch vorzustellen, in dem Falle, wenn ich, den Theodoros sowohl als dich kennend und von euch beiden wie von Siegelringen in jenem Wachs die Abdrücke habend, euch dann von weitem und nicht deutlich genug sehe, und indem ich mir Mühe gebe, das einem jeden zugehörige Abzeichen mit der ihm zugehörigen Gesichtswahrnehmung so zu vereinigen, daß ich diese gleichsam in ihre vorigen Spuren wieder einzuführen suche, damit eine Wiedererkennung erfolge, ich dann dies verfehle und, wie beim Wiederanlegen der Schuhe, beide vertauschend, die Anschauung eines jeden zu dem fremden Abdruck hinwerfe oder ebenso einen Fehler mache, wie es mit dem Sehen in den Spiegel ergeht, wo, was rechts ist, auf die linke Seite hinüberfließt: dann entsteht die Verwechslung der Vorstellung und das Falschvorstellen.

Theaitetos: Es ist gar nicht zu sagen, Sokrates, wie sehr das, was bei der Vorstellung vorkommt, dem gleicht, was du anführst.

Sokrates: Ebenso auch ferner, wenn ich, beide kennend, den einen außer dem Kennen auch wahrnehme, den andern aber nicht, wenn nämlich meine Kenntnis des einen der Wahrnehmung nicht entsprechend ist, – was ich vorher ebenso sagte und du damals nicht verstandest.

Theaitetos: Ich verstand es nicht.

Sokrates: Ich sagte nämlich dieses, daß, wer den einen kennt und wahrnimmt und eine der Wahrnehmung entsprechende Kenntnis von ihm hat, gewiß niemals glauben wird, dieser sei ein anderer, den er auch kennt und wahrnimmt und von dem er ebenfalls eine der Wahrnehmung entsprechende Kenntnis hat. So war es doch?

Theaitetos: Ja.

Sokrates: So blieb also eben das jetzt Angeführte übrig, wobei wir behaupten, daß eine falsche Vorstellung entstehen könne, daß nämlich, wer beide kennt und beide sieht oder sonst eine Wahrnehmung von ihnen hat, die Abdrücke von beiden der Wahrnehmung vielleicht nicht ähnlich besitzt und so wie ein schlechter Schütze anderswohin treffen und sein Ziel verfehlen kann, was eben auch »falsch« genannt wird.

Theaitetos: Und ganz mit Recht.

[636] Sokrates: Also auch, wenn nur zu dem einen Abdruck die Wahrnehmung hinzukommt, zu dem andern aber nicht und sie den der abwesenden Wahrnehmung dann der anwesenden zuschreibt, – in dem allen kann die Seele sich irren. Und mit einem Worte: in dem, wovon jemand nicht weiß und was er nicht jemals wahrgenommen hat, findet, wie es scheint, das Irren nicht statt und die falsche Vorstellung, wenn wir anders jetzt irgend etwas Vernünftiges gesagt haben. In dem aber, wovon wir wissen und was wir wahrnehmen, darin dreht und wendet sich die Vorstellung, bald richtig, bald falsch geratend; wenn sie nämlich gerade gegenüber geht und zusammengehörige Abbilder und Urbilder miteinander verbindet, wird sie wahr; wenn sie aber verdreht und kreuzweise verbindet, wird sie falsch.

Theaitetos: Das ist vortrefflich gesagt, Sokrates.

Sokrates: Hast du erst auch folgendes gehört, so wirst du es noch mehr sagen: Das Richtigvorstellen ist doch etwas Schönes, und das Sich irren aber etwas Schlechtes?

Theaitetos: Wie sollte es nicht?

Sokrates: Dieses nun, sagt man, entstehe daher: Wenn jemandes Wachs in der Seele stark aufgetragen ist und reichlich und glatt und gehörig erweicht, dann und bei solchen Menschen sind alle aus den Wahrnehmungen kommenden und in dieses Mark der Seele, wie Homeros, die Ähnlichkeit mit dem Wachs andeutend, sagt, eingezeichneten Abdrücke, da sie rein sind und Tiefe genug haben, auch dauerhaft, und solche Menschen selbst sind zuerst gelehrig, dann auch von gutem Gedächtnis, ferner verwechseln sie nicht die Abdrücke der Wahrnehmungen, sondern stellen immer richtig vor. Denn sie können ihre festen und geräumig gelegenen Abbilder leicht an das ihnen Zugehörige verteilen, was das Wirkliche heißt, und solche Menschen selbst heißen weise. Oder dünkt dich das nicht?

Theaitetos: Überaus sehr.

Sokrates: Wenn nun jemandes Mark rauh ist, was der in allen Dingen weise Dichter gar loben will, oder wenn es schmutzig ist und nicht von reinem Wachs, oder auch zu feucht oder zu hart, so sind die mit dem feuchten gelehrig zwar, aber auch vergeßlich, die mit dem harten aber das Gegenteil. Die aber haariges und rauhes, und steiniges oder mit Erde und[637] Schmutz vermischtes Wachs haben, die haben auch undeutliche Abdrücke; undeutliche auch, die zu hartes Wachs haben: denn sie sind nicht tief genug; undeutliche auch, die feuchtes Wachs haben: denn weil sie sich verlaufen, werden sie bald unkenntlich. Sind sie nun überdies noch aus Mangel an Raum übereinander gedrängt, wenn jemandes Seelchen nur klein ist, so werden sie noch undeutlicher als jene. Also diese nun werden falsch vorstellende; denn wenn sie etwas sehen oder hören oder überdenken, so können sie nicht schnell jedem das Seinige zuweisen, sondern sind langsam, und weil sie falsch anweisen, so versehen und verhören und verdenken sie sich oftmals, und diese heißen unverständig, und man sagt, daß sie sich um das Wahre immer betrügen. Theaitetos: Vortrefflich über alle Maßen, o Sokrates!

Sokrates: Wollen wir also sagen, daß es falsche Vorstellungen in uns gibt?

Theaitetos: Gar sehr.

Sokrates: Und auch richtige?

Theaitetos: Auch richtige.

Sokrates: Sollen wir also endlich glauben, hinlänglich bewiesen zu haben, daß es diese beiden Arten von Vorstellungen ganz gewiß gibt?

Theaitetos: Vollkommen hinreichend.

Sokrates: Nun wahrlich, Theaitetos, so ist es doch ein böses und höchst widriges Ding um einen Menschen, der nicht von der Stelle zu bringen ist mit seinen Reden.

Theaitetos: Wieso? Weshalb sagst du das?

Sokrates: Aus Verdruß über meine Ungelehrigkeit und mein in der Tat gar nicht zu beschwichtigendes Geschwätz. Denn wie soll man es anders nennen, wenn ein Mensch aus Stumpfsinnigkeit alle seine Reden immer wieder so und so umdreht und sich nicht überzeugen läßt und gar nicht wieder fortzubringen ist von jedem Satz?

Theaitetos: Aber du, worüber bist du denn verdrießlich?

Sokrates: Nicht nur verdrießlich bin ich, sondern auch in Angst, was ich antworten soll, wenn mich jemand fragt: »O Sokrates, du hast also die falsche Vorstellung gefunden, daß sie nicht in den Wahrnehmungen untereinander noch auch in den Gedanken, sondern in der Verbindung der Wahrnehmungen[638] mit den Gedanken liegt?« Ich werde es bejahen, glaube ich, nicht ohne mich ein wenig zu brüsten, als hätten wir etwas sehr Schönes gefunden.

Theaitetos: Auch mir, o Sokrates, scheint es gar nichts Schlechtes zu sein, was wir jetzt eben gezeigt haben.

Sokrates: »Nicht wahr, Sokrates,« wird er sagen, »du meinst, daß wir von dem Menschen, den wir uns nur denken, den wir aber nicht sehen, niemals glauben werden, er sei ein Pferd, welches wir auch jetzt weder sehen noch betasten, sondern nur denken, von dem wir sonst aber nichts wahrnehmen?« Ich werde, glaube ich, bejahen, daß wir dieses meinen.

Theaitetos: Und zwar mit Recht.

Sokrates: »Wie nun,« wird er sagen, »die Elf, die jemand nur denkt, wird er wohl diesem zufolge niemals können für Zwölf halten, welche er sich auch nur denkt?« Komm nur und antworte du!

Theaitetos: Ich werde antworten, daß im Sehen und Betasten wohl jemand die Elf für Zwölf halten kann; von denen aber, welche er nur in Gedanken hat, könnte er sich wohl dies niemals vorstellen.

Sokrates: Wie aber? Glaubst du wohl, es habe einer einmal bei sich selbst etwa Fünf und Sieben, ich meine aber nicht, er habe sich sieben und fünf Menschen vorgenommen zu betrachten oder dergleichen etwas; sondern die Fünf und Sieben selbst, welche wir als Denkmal in jenem Wachsguß angenommen, und von denen wir gesagt haben, es sei unmöglich, in Hinsicht ihrer falsch vorzustellen. Wenn also diese selbst einmal der und jener bei sich betrachtet hat, zu sich selbst sprechend und sich fragend, wieviel sie wohl zusammen sind, und der eine nun seine Meinung dahin gegeben, sie machten Elf, der andere aber Zwölf, – oder werden sie alle glauben und sagen, daß sie Zwölf machen?

Theaitetos: Nein, beim Zeus, sondern viele auch werden Elf glauben. Und wenn es einer gar bei einer größeren Zahl versucht, irrt er sich noch leichter; und ich glaube doch, du sprichst eigentlich von jeder Zahl.

Sokrates: Woran du ganz recht glaubst. Und so überlege dir nun, ob dies etwas anderes sagen will, als daß er diese Zwölf selbst, die im Wachsguß, für Elf hält.

[639] Theaitetos: So scheint es wenigstens.

Sokrates: Kommt es also nun nicht auf die vorige Rede zurück? Denn der, dem dieses begegnet, hält etwas, wovon er weiß, für etwas anderes, wovon er ebenfalls weiß, was wir als unmöglich annahmen und wodurch wir eben bewiesen, daß es keine falsche Vorstellung gebe, damit man nicht annehmen müßte, daß derselbe dasselbe wisse und zugleich auch nicht wisse.

Theaitetos: Ganz richtig.

Sokrates: Wir werden also zeigen müssen, daß das Falschvorstellen etwas anderes ist als eine Verwechslung der Gedanken und der dazu gehörigen Wahrnehmungen. Denn wenn es dies wäre, so würden wir uns nicht in den Gedanken selbst irren. Nun aber gibt es entweder keine falsche Vorstellung, oder es ist möglich, daß jemand das, wovon er weiß, zugleich auch nicht wisse. Welches von beiden wählst du nun? Theaitetos: Eine schwierige Wahl legst du mir vor, o Sokrates!

Sokrates: Beides zugleich aber will doch, wie es scheint, unsere Rede nicht verstatten. Doch aber – denn man muß ja alles wagen –, wie wäre es, wenn wir uns erdreisteten, ganz unverschämt zu sein?

Theaitetos: Wieso?

Sokrates: Wenn wir sagen wollten, worin wohl eigentlich das Wissen besteht.

Theaitetos: Und was ist dies Unverschämtes?

Sokrates: Du scheinst nicht zu bedenken, daß unsere ganze Unterredung von Anfang an eine Frage nach der Erkenntnis gewesen ist, als ob also wir nicht wüßten, was sie ist.

Theaitetos: Ich bedenke es wohl.

Sokrates: Und es scheint dir dennoch nicht unverschämt, daß wir, die wir nicht wissen, was Erkenntnis ist, dennoch zeigen wollen, worin das Wissen besteht? Aber, Theaitetos, schon seit langer Zeit sind wir ganz tief darin verstrickt, daß wir gar nicht rein und tadellos das Gespräch führen. Denn tausendmal haben wir schon gesagt, wir kennen und wir kennen nicht, wir wissen davon und wir wissen nicht davon, als ob wir hierüber einander verständen, während wir noch immer nicht wissen, was Erkenntnis ist? Ja, auch jetzt wieder haben[640] wir uns der Worte bedient: »nicht wissen« und »verstehen«, als ob es uns ziemte, sie zu gebrauchen, wenn uns doch noch die Erkenntnis mangelt.

Theaitetos: Auf welche Art aber willst du denn reden, Sokrates, wenn du dich ihrer enthältst?

Sokrates: Ich auf gar keine, solange ich bin, wie ich bin; wäre ich jedoch ein Streitlustiger, würde ich wohl; wie denn ein solcher, wenn er auch jetzt hier wäre, allerdings verlangen würde, sich derselben zu enthalten, und uns, was ich sage, gar sehr verweisen würde. Da wir nun aber geringe Leute sind, willst du, daß ich es wage zu sagen, worin wohl das Wissen besteht? Denn es scheint mir gar sehr zur Sache zu führen.

Theaitetos: So wage es also, beim Zeus! Und kannst du dich dieser Worte nicht enthalten, das soll dir gern verziehen sein.

Sokrates: Hast du wohl gehört, wie sie jetzt das Wissen erklären?

Theaitetos: Vielleicht; indes im Augenblick erinnere ich mich dessen nicht.

Sokrates: Man sagt nämlich, es sei das Haben der Erkenntnis.

Theaitetos: Richtig.

Sokrates: Wir nun wollen eine kleine Veränderung machen und sagen, es sei der Besitz der Erkenntnis.

Theaitetos: Auf welche Weise meinst du denn, daß dieses von jenem unterschieden sei?

Sokrates: Vielleicht ist es gar nichts. Höre aber, was mir scheint, und prüfe es mit mir!

Theaitetos: Wenn ich es nur können werde.

Sokrates: Mir also scheint »Besitzen« und »Haben« nicht einerlei zu sein. Wenn z.B. jemand ein Kleid, das er gekauft und nun allerdings in seiner Gewalt hat, nicht trüge, so werden wir nicht sagen, daß er es an sich habe, sondern daß er es besitze.

Theaitetos: Und mit Recht.

Sokrates: Sieh also zu, ob es möglich ist, auch die Erkenntnis auf diese Art zu besitzen zwar, aber nicht zu haben; sondern wie wenn jemand wilde Vögel, Tauben oder von anderer Art, gejagt und zu Hause einen Taubenschlag bereitet hat, worin er sie hält. Denn auf gewisse Weise würden wir[641] dann sagen können, daß er sie immer hat, da er sie ja besitzt. Nicht wahr?

Theaitetos: Ja.

Sokrates: In einem andern Sinne aber auch, daß er gar keine hat, sondern daß ihm nur eine Gewalt über sie zukommt, indem er sie in einem ihm eigentümlichen Behältnis sich unterwürfig gemacht, sie zu nehmen und zu haben, wann er Lust hat, indem er fangen und wieder loslassen kann, welche er jedesmal will, und dieses ihm freisteht zu tun, sooft es ihm nur gefällt.

Theaitetos: So ist es.

Sokrates: Wie wir also in dem Vorigen irgend ein wächsernes Machwerk in der Seele bereiteten, so laß uns jetzt in jeder Seele einen Taubenschlag von mancherlei Vögeln anlegen; einige, die sich in Herden zusammenhalten und von andern absondern, andere, die nur zu wenigen, noch andere, welche einzeln unter allen, wie es kommt, umherfliegen.

Theaitetos: Er sei angelegt! Was wird nun aber daraus?

Sokrates: In der Kindheit, muß man sagen, sei dieses Behältnis leer, und statt der Vögel muß man sich Erkenntnisse denken. Welche Erkenntnisse nun einer in Besitz genommen und in seinen Schlag eingesperrt hat, von denen sagt man, er habe die Sache, deren Erkenntnis dies war, gelernt oder gefunden, und dies sei eben das Wissen.

Theaitetos: So soll es sein.

Sokrates: Daß er aber, welche von diesen Erkenntnissen et will, jagt und greift und sie dann festhält und wieder losläßt: siehe nun zu, welchen Namen dieses wird führen müssen, ob denselben wie zuvor, da er sie in Besitz nahm, oder einen andern? Du kannst aber hieraus noch deutlicher abnehmen, was ich will: Du nimmst doch eine Rechenkunst an?

Theaitetos: Ja.

Sokrates: Diese denke dir nun als die Jagd nach allen Erkenntnissen von Geraden und Ungeraden!

Theaitetos: So denke ich sie.

Sokrates: Vermittelst dieser Kunst nun, meine ich, hat jemand sowohl für sich die Erkenntnis der Zahlen in seiner Gewalt, als nach auf andere überträgt sie vermittelst ihrer, wer dies tut.

[642] Theaitetos: Ja.

Sokrates: Und wir sagen, wer sie übergibt, der lehre, und wer sie überkommt, der lerne; wer sie aber hat, so daß er sie besitzt in jenem Taubenschlage, der wisse.

Theaitetos: Sehr wohl.

Sokrates: Nun merke schon auf das Folgende: Wer nun vollkommen ein Rechenkünstler ist, weiß der nicht alle Zahlen? Denn die Erkenntnisse von allen Zahlen sind in seiner Seele.

Theaitetos: Wie sonst?

Sokrates: Nun rechnet ein solcher doch wohl einmal etwas bei sich: entweder Zahlen selbst oder auch etwas anderes außer ihnen, was Zahl an sich hat?

Theaitetos: Wie sollte er nicht?

Sokrates: Und das Rechnen selbst wollen wir doch als nichts anderes setzen als das Suchen, die wievielste Zahl eine ist?

Theaitetos: Ja.

Sokrates: Was er also weiß, scheint er zu suchen als ein Nichtwissender, da wir doch eingeräumt haben, daß er alle Zahlen wisse. Denn du hörst doch von solchen Streitfragen?

Theaitetos: O ja.

Sokrates: Werden wir nun nicht, dies mit dem Besitz der Tauben und mit der Jagd auf sie vergleichend, sagen, daß es eine doppelte Jagd gibt: die eine vor dem Besitz, des Besitzes wegen, die andere für den Besitzer, wenn er greifen und in Händen haben will, was er schon lange besessen hat? Ebenso auch kann jemand dieses nämliche, wovon er durch Lernen schon seit langer Zeit Erkenntnis hatte und was er wußte, doch sich vergegenwärtigen, indem er die Erkenntnis einer Sache wieder aufnimmt und festhält, welche er zwar schon lange besaß, die er aber nicht bei der Hand hatte in Gedanken?

Theaitetos: Sehr richtig.

Sokrates: Danach nun fragte ich eben vorher, mit was für Worten man dies ausdrücken soll, wenn der Rechenkünstler geht, um etwas auszurechnen, oder der Sprachkundige, etwas zu lesen: ist er als ein Wissender also in diesem Fall im Begriff, wieder von sich selbst zu lernen, was er weiß?

Theaitetos: aber das ist ja ungereimt, o Sokrates.

Sokrates: Sollen wir also sagen, er lese oder rechne, was er[643] nicht wisse, nachdem wir jenem doch zugeschrieben haben, daß er alle Buchstaben, diesem, daß er alle Zahlen wisse?

Theaitetos: Aber auch das ist ja unvernünftig.

Sokrates: Willst du also, daß wir sagen, um die Worte bekümmern wir uns nichts, wohin jeder das Wissen und das Lernen nach seinem Belieben ziehen will; nachdem wir aber festgesetzt, etwas anderes sei, die Erkenntnis besitzen, etwas anderes, sie haben, so behaupten wir, es sei zwar unmöglich, daß jemand, was er besitzt, auch nicht besitze, so daß dies freilich sich niemals ereigne, daß jemand nicht wisse, was er weiß; eine falsche Vorstellung davon zu haben sei jedoch möglich, indem es möglich sei, daß er nicht diese, sondern eine andere Erkenntnis statt dieser gefaßt hätte, wenn, indem er auf eine von seinen Erkenntnissen Jagd macht, diese durcheinanderfliegen und er dann sich vergreift und anstatt der einen eine andere bekommt; wenn er also glaubt. Elf sei Zwölf, indem er die Erkenntnis der Elf anstatt der der Zwölf gegriffen, gleichsam seine Holztaube statt seiner Kropftaube.

Theaitetos: Dies läßt sich annehmen.

Sokrates: Greift er aber die, welche er greifen wollte, dann irre er sich nicht, sondern stelle vor, was ist, und das nun sei die wahre und die falsche Vorstellung; und worüber wir vorher verdrießlich wurden, das stehe uns gar nicht entgegen? Vielleicht wirst du mir beistimmen, oder was wirst du tun?

Theaitetos: Bestimmen.

Sokrates: So wären wir demnach das Nichtwissen dessen, was man weiß, glücklich los. Denn daß wir nicht besäßen, was wir besitzen, das ereignet sich nun nicht mehr, es mag sich jemand irren oder nicht. Allein es scheint mir jetzt ein noch ärgeres Ereignis sich zu zeigen.

Theaitetos: Was denn?

Sokrates: Wenn das Verwechseln der Erkenntnisse die falsche Vorstellung sein soll.

Theaitetos: Wieso?

Sokrates: Zuerst schon dieses, daß jemand eine Erkenntnis von etwas haben und doch dieses selbst nicht kennen soll, und zwar nicht durch Unwissenheit, sondern eben vermittelst seiner Erkenntnis, ferner ein anderes als dieses vorstellen und dieses als ein anderes: wie wäre dieses nicht ganz widersinnig,[644] daß, indem ihr Erkenntnis einwohnt, die Seele doch gar nichts erkenne, sondern alles verkennen sollte. Denn nach demselben Verhältnis hindert nichts, daß nicht auch eine ihr beiwohnende Unwissenheit machen könnte, daß sie etwas wisse, und eine Blindheit, daß sie etwas sehe, wenn sogar eine Erkenntnis machen kann, daß sie etwas nicht weiß.

Theaitetos: Vielleicht, Sokrates, haben wir eben nicht richtig angenommen, indem wir sagten, die Vögel wären sämtlich Erkenntnisse. Wir hätten vielmehr auch Unkenntnisse annehmen sollen, welche in der Seele mit herumfliegen, und daß der Jagende, indem er bald die Erkenntnis, bald die Unkenntnis ergreift, denselben Gegenstand vermittelst der Unkenntnis falsch, vermittelst der Erkenntnis aber richtig vorstelle?

Sokrates: Es ist nicht leicht, Theaitetos, dich nicht zu loben. Allein, was du jetzt gesagt hast, das besieh dir doch noch einmal! Es sei nämlich, wie du sagst: so wird, wer die Unkenntnis ergriffen hat, wie du behauptest, falsch vorstellen. Nicht wahr?

Theaitetos: Ja.

Sokrates: Er wird aber doch wohl nicht glauben, falsch vorzustellen?

Theaitetos: Wie sollte er?

Sokrates: Sondern er wird glauben, richtig vorzustellen, und wird sich verhalten wie ein Wissender dessen, worin er sich doch irrt.

Theaitetos: Wie anders?

Sokrates: Eine Erkenntnis wird er also glauben gegriffen und in der Hand zu haben, und nicht eine Unkenntnis.

Theaitetos: Offenbar.

Sokrates: Nach einem langen Umwege befinden wir uns wieder in unserer ersten Verlegenheit. Denn lachend wird jener uns verfolgende Tadler sagen: »Wie doch, ihr trefflichen Männer, von beiden wissend, der Erkenntnis und der Unkenntnis, hält er die eine, um welche er weiß, für die andere, um welche er ebenfalls weiß? Oder von keiner von beiden wissend stellt er die eine, um die er nicht weiß, als eine von jener Art vor, um welche er ebenfalls nicht weiß? Oder hält er die, um welche er nicht weiß, für die, um welche er weiß? Oder werdet ihr mir wieder sagen, es gebe von den Erkenntnissen und Unkenntnissen[645] wiederum Erkenntnisse, welche der Besitzer in irgend einem andern lächerlichen Taubenschlag oder Wachstafel eingesperrt hat und die er weiß, solange er sie besitzt, auch wenn er sie nicht bei der Hand hat in Gedanken? Und so werdet ihr genötigt sein, tausendmal denselben Kreis zu durchlaufen, ohne etwas damit zu gewinnen?« Was werden wir hierauf antworten, Theaitetos?

Theaitetos: Ja, beim Zeus, Sokrates, ich weiß nicht, was darauf zu sagen ist.

Sokrates: Macht uns also unsere Rede nicht ganz mit Recht einen Vorwurf und zeigt uns, daß wir Unrecht taten, die falsche Vorstellung eher zu suchen als die Erkenntnis, und diese dagegen fahren zu lassen? Und daß es unmöglich ist, jene zu verstehen, ehe jemand die Erkenntnis hinlänglich aufgefaßt hat, was sie ist?

Theaitetos: Notwendig, Sokrates, muß man für jetzt glauben, was du sagst.

Sokrates: Was soll man also wieder von vorne sagen, daß die Erkenntnis sei? Denn wir wollen es doch noch nicht aufgeben? Theaitetos: Gewiß nicht, wenn du es mir nicht aufkündigst.

Sokrates: So sprich denn, wie sollen wir sie endlich erklären, um am wenigsten uns selbst zu widersprechen?

Theaitetos: Wie wir es in dem Vorigen versucht haben, Sokrates; ich wenigstens weiß nichts anderes zu sagen.

Sokrates: Welches meinst du denn?

Theaitetos: Daß richtige Vorstellung Erkenntnis ist. Denn ohne Fehl ist das Richtigvorstellen, und was daraus hervorgeht, das geht alles schön und gut hervor. Sokrates: Wer ins Wasser vorangeht, o Theaitetos, sagt, es werde sich ja selbst zeigen. So auch wenn wir weitergehn und diesem nachspüren, wird es uns vielleicht, wenn es uns vor die Füße kommt, das Gesuchte auch zeigen. Bleiben wir aber stehen, so wird uns nichts deutlich werden.

Theaitetos: Du hast recht. Laß uns also gehen und untersuchen!

Sokrates: Dies wohl ist eine kurze Untersuchung; denn eine ganze Kunst beweist dir schon, daß dies nicht die Erkenntnis ist.

Theaitetos: Wieso, und was für eine?

[646] Sokrates: Die Kunst der Vornehmsten an Weisheit, die man Redner und Sachwalter nennt. Denn diese überreden vermittelst ihrer Kunst nicht, indem sie lehren, sondern indem sie bewirken, daß man sich vorstellt, was sie eben wollen. Oder hältst du sie für so bewundernswürdige Meister im Lehren, daß sie, wenn jemand, ohne daß sonst einer dabei war, seines Geldes beraubt ward oder sonst Unrecht erlitt, verständen, während ein weniges Wasser verläuft, die wahre Beschaffenheit dessen, was diesem geschehen ist, gründlich zu beweisen?

Theaitetos: Keineswegs glaube ich das, sondern, daß sie nur überreden.

Sokrates: Heißt aber nicht »überreden«: bewirken, daß etwas auf eine gewisse Art vorgestellt werde?

Theaitetos: Was anders?

Sokrates: Wenn also Richter so, wie es sich geholt, überredet worden sind in bezug auf etwas, das nur, wer es selbst gesehen hat, wissen kann, sonst aber keiner, so haben sie dieses, nach dem bloßen Gehör urteilend, vermöge einer richtigen Vorstellung, aber ohne Erkenntnis abgeurteilt, so jedoch, daß die Überredung richtig gewesen, wenn sie nämlich als Richter gut geurteilt haben?

Theaitetos: So ist es allerdings.

Sokrates: Nicht aber, o Freund, könnte jemals, wenn richtige Vorstellung und Erkenntnis einerlei wären, auch der beste Richter und Gerichtshof etwas richtig vorstellen ohne Erkenntnis. Nun aber scheint beides verschieden zu sein.

Theaitetos: Was ich auch schon einen sagen gehört und nur vergessen habe, jetzt aber erinnere ich mich dessen wieder. Er sagte nämlich, die mit ihrer Erklärung verbundene richtige Vorstellung wäre Erkenntnis, die unerklärbare dagegen läge außerhalb der Erkenntnis. Und wovon es keine Erklärung gebe, das sei auch nicht erkennbar, und so benannte er dies auch, wovon es aber eine gebe, das sei erkennbar.

Sokrates: Gewiß schön gesagt. Dies Erkennbare aber und nicht Erkennbare, sage an, wie er es unterschied, ob wir es etwa auf gleiche Weise gehört haben, du und ich?

Theaitetos: Ich weiß nicht, ob ich es herausfinden werde; trüge es aber ein anderer vor, so glaube ich, würde ich wohl folgen.

[647] Sokrates: Höre also einen Traum für den andern. Mich nämlich dünkt, daß ich von einigen gehört habe, die ersten gleichsam Urbestandteile, aus denen wir sowohl als alles übrige zusammengesetzt sind, ließen keine Erklärung zu; sondern man könne nur jedes von ihnen an und für sich bezeichnen, nicht aber irgend etwas anderes davon aussagen, weder daß sie seien, noch daß sie nicht seien; denn alsdann würde ihnen doch ein Sein oder Nichtsein schon beigelegt, man dürfe ihnen aber nichts weiterzusetzen, wenn man doch sie allein aussagen wolle. Daher man ihnen weder das »dasselbe« noch das »jenes« noch das »jedes« noch das »nur« noch »dieses« noch viel anderes dergleichen zusetzen dürfe. Denn eben diese Begriffe laufen überall umher und werden mit allen zusammengefügt, immer aber als verschieden von denen, welchen sie beigelegt würden. Jene Dinge müßten aber, wenn es möglich wäre, sich über sie zu erklären, und jedes seine eigentümliche Erklärung hätte, ohne alle andern erklärt werden. Nun aber sei es unmöglich, daß irgend eins von den ersten Dingen durch eine Erklärung ausgedrückt werde; denn es gebe für sie nichts als nur genannt zu werden, sie hätten eben nur einen Namen. Was aber aus diesen schon zusammengesetzt wäre, dessen Namen wäre, so wie es selbst aus mehreren zusammengeflochten ist, ebenfalls zusammengeflochten und zu einer Erklärung geworden. Denn Verflechtung von Namen sei das Wesen der Erklärung. Auf diese Art also wären die Urbestandteile unerklärbar und unerkennbar, wahrnehmbar aber seien sie; die Verknüpfungen hingegen erkennbar und erklärbar und durch richtige Vorstellung vorstellbar. Wenn nun jemand ohne Erklärung eine richtige Vorstellung von etwas empfinge, so sei zwar seine Seele darüber im Besitz der Wahrheit; sie erkenne aber nicht. Denn wer nicht Rede stehen und Erklärung geben könne, der sei ohne Erkenntnis über diesen Gegenstand. Wer aber die Erklärung auch dazu habe, der sei des allen mächtig und habe alles vollständig zur Erkenntnis beisammen. Hast du diesen Traum ebenso gehört oder anders?

Theaitetos: Ebenso ganz und gar.

Sokrates: Gefällt es dir auch und setzest du dieses, daß richtige Vorstellung mit Erklärung Erkenntnis ist?

Theaitetos: Offenbar, versteht sich.

[648] Sokrates: Also hatten wir auf diese Art heute am Tage erreicht, was seit langer Zeit viele Weisen gesucht haben, worüber sie, ohne es zu finden, alt geworden sind?

Theaitetos: Mir scheint doch, Sokrates, das jetzt Vorgetragene sehr schön gesagt zu sein.

Sokrates: Es ist auch ganz wahrscheinlich, daß sich die Sache an sich so verhalte. Denn was sollte auch die Erkenntnis sein ohne Erklärung und richtige Vorstellung? Nur eins will mir an dem Gesagten mißfallen.

Theaitetos: Was denn?

Sokrates: Gerade was das Herrlichste zu sein scheint, daß nämlich die Urbestandteile unerkennbar wären, alle Arten von Verknüpfungen aber erkennbar. Theaitetos: Ist dies nicht richtig?

Sokrates: Man muß zusehen. Haben wir doch zu Geiseln für diesen Satz die Beispiele, von denen offenbar, wer dieses alles sagte, ausgegangen ist.

Theaitetos: Was für welche?

Sokrates: Die Urbestandteile der Schrift und deren Verknüpfungen. Oder glaubst du, daß der, welcher aufgestellt, wovon wir reden, auf etwas anderes dabei gesehen hat als hierauf?

Theaitetos: Nein, sondern hierauf.

Sokrates: Prüfen wir es also noch einmal von vorn, oder vielmehr uns selbst, ob wir so oder nicht so lesen gelernt haben: Wohlan zuerst, haben also die Silben eine Erklärung, die Buchstaben aber keine?

Theaitetos: Wahrscheinlich.

Sokrates: Vollkommen leuchtet es auch mir ein. Wenn zum Beispiel jemand so nach der ersten Silbe von Sokrates fragte: »O Theaitetos, sprich, was ist So?« Was wirst du antworten?

Theaitetos: Es ist S und O.

Sokrates: Hier hast du also die Erklärung der Silbe.

Theaitetos: So ist es.

Sokrates: So komm und sage ebenso auch die Erklärung des S!

Theaitetos: Und wie sollte wohl jemand die Bestandteile eines Bestandteils angeben können? Denn überdies ist das S ein stummer Buchstabe, nur ein Geräusch, als wenn jemand mit der Zunge zischt. Das B aber hat gar weder ein Geräusch[649] noch einen Laut, und ebenso die meisten Buchstaben. So daß hiernach sehr gut gesagt ist, daß sie unerklärbar sind, da selbst die deutlichsten unter ihnen nur einen Laut haben, ganz und gar aber keine Erklärung.

Sokrates: Dieses, Freund, hätten wir also in Ordnung gebracht von der Erkenntnis.

Theaitetos: Wir scheinen ja.

Sokrates: Wie aber, daß der Bestandteil nicht erkennbar ist, wohl aber die Verknüpfung, – haben wir denn das auch mit Recht angenommen?

Theaitetos: Mich dünkt es doch.

Sokrates: Gut denn. Wollen wir sagen, die Silbe sei die zwei Buchstaben, oder, wenn sie aus mehr als zweien besteht, die sämtlichen? Oder sie sei ein Besonderes, erst aus der Zusammensetzung von jenen Entstandenes?

Theaitetos: Sie sei die sämtlichen, dünkt mich, werden wir sagen.

Sokrates: So betrachte es einmal an jenen zweien, dem S und O: Beide machen die erste Silbe meines Namens. Wird nun nicht, wer diese Silbe kennt, auch jene beiden Buchstaben kennen?

Theaitetos: Wie anders?

Sokrates: Er kennt also das S und O?

Theaitetos: Ja.

Sokrates: Wie aber? Jeden von beiden erkennt er also nicht, und so, obschon er keinen von beiden erkennt, erkennt er doch beide?

Theaitetos: Das wäre ja toll und unvernünftig.

Sokrates: Allein, wenn es notwendig ist, daß er jeden erkennt, um beide zu erkennen, so muß ja notwendig die Buchstaben schon vorher erkennen, wer jemals die Silbe erkennen will, und so wird uns diese schöne Erklärung wieder entschlüpfen und verschwinden.

Theaitetos: Und das ja sehr schnell.

Sokrates: Wir bewachen sie eben nicht gut. Denn wir sollten vielleicht gesagt haben, die Silbe wäre nicht die gesamten Buchstaben, sondern eine aus jenen entstandene besondere Gattung, welche ihr eignes Wesen und Gestalt für sich hätte und verschieden wäre von den Buchstaben.

[650] Theaitetos: Ganz gewiß, und es mag sich wohl eher so verhalten als anders.

Sokrates: Wir müssen zusehen und nicht unmännlicherweise einen so großen und herrlichen Satz verraten.

Theaitetos: Keineswegs.

Sokrates: Es sei also, wie wir jetzt sagen, die Verknüpfung eine aus den jedesmal sich zusammenfügenden Bestandteilen entstehende eigne Gattung, auf gleiche Weise bei den Buchstaben, und auch sonst überall.

Theaitetos: Allerdings.

Sokrates: Also Teile darf es von ihr nicht geben?

Theaitetos: Wieso nicht?

Sokrates: Weil was Teile hat, dessen Ganzes ist auch notwendig die gesamten Teile. Oder sagst du, auch das Ganze sei ein aus den Teilen entstandenes Eignes, von den gesamten Teilen Verschiedenes?

Theaitetos: Das will ich.

Sokrates: Ein Gesamtes aber und ein Ganzes, verstehst du darunter dasselbe, oder unter jedem etwas anderes?

Theaitetos: Dessen bin ich nicht gewiß. Weil du aber immer befiehlst, herzhaft zu antworten, so will ich es wagen und sagen: etwas anderes unter jedem.

Sokrates: Die Herzhaftigkeit, o Theaitetos, ist gut; ob aber auch die Antwort, das müssen wir sehen.

Theaitetos: Das müssen wir allerdings.

Sokrates: So wäre also der jetzigen Erklärung zufolge das Ganze verschieden von dem Gesamten?

Theaitetos: Ja.

Sokrates: Wie aber? Die Sämtlichen und das Gesamte, ist dies auch verschieden? Wenn wir z.B. sagen eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, und wenn zweimal drei oder dreimal zwei, oder drei und zwei und eins, – sagen wir in allen diesen Fällen dasselbe oder in jedem etwas anderes?

Theaitetos: Dasselbe.

Sokrates: Etwas anderes als Sechs?

Theaitetos: Nichts anderes.

Sokrates: In allen diesen Formeln also haben wir ein Gesamtes, die Sechs gefunden?

Theaitetos: Ja.

[651] Sokrates: Und wiederum, meinen wir nichts, wenn wir sagen: die Sämtlichen?

Theaitetos: Notwendig doch etwas.

Sokrates: Etwas anderes etwa als Sechs?

Theaitetos: Nichts anderes.

Sokrates: In allem also, was aus Zahlen besteht, nennen wir dasselbe das Gesamte und die Sämtlichen?

Theaitetos: So scheint es.

Sokrates: Nun laß uns weiter dieses davon sagen: Die Zahl eines Acker Landes und der Acker ist einerlei?

Theaitetos: Ja.

Sokrates: Und mit dem Stadion ebenso?

Theaitetos: Ja.

Sokrates: Und ebenso wohl auch die Zahl eines Heeres und das Heer? Und mit allen ähnlichen Dingen auf gleiche Art? Denn ihre gesamte Zahl ist auch das gesamte Sein eines jeden von ihnen.

Theaitetos: Ja.

Sokrates: Nun, und die Zahl eines jeden, ist die etwas anderes als seine Teile?

Theaitetos: Nein.

Sokrates: Und was Teile hat, besteht aus Teilen?

Theaitetos: Offenbar.

Sokrates: Eingestanden ist aber, daß die sämtlichen Teile das Gesamte sind, wenn die gesamte Zahl das gesamte Sein ist.

Theaitetos: So ist es.

Sokrates: Das Ganze besteht also nicht aus Teilen? Denn so wäre es ein Gesamtes, wenn es die sämtlichen Teile wäre.

Theaitetos: Es scheint nicht.

Sokrates: Kann aber ein Teil von irgend etwas anderem sein, was er ist, als von einem Ganzen?

Theaitetos: Von einem Gesamten.

Sokrates: Recht mannhaft, o Theaitetos, wehrst du dich. Das Gesamte aber, ist das nicht eben dieses, ein Gesamtes, wenn ihm nichts abgeht?

Theaitetos: Allerdings.

Sokrates: Ist aber nicht eben dieses ein Ganzes, dem nirgends etwas abgeht? Dem aber etwas abgeht, dieses ist ein weder Ganzes[652] noch Gesamtes, indem in bezug auf beides aus demselben dasselbe geworden ist?

Theaitetos: Jetzt scheint mir das Ganze und das Gesamte in nichts mehr verschieden zu sein.

Sokrates: Sagten wir nun nicht, wo Teile seien, da sei das Ganze und Gesamte die sämtlichen Teile?

Theaitetos: Allerdings.

Sokrates: Wiederum, was ich eben wollte, muß nicht die Silbe, wenn sie nicht die Buchstaben ist, dann auch die Buchstaben nicht als ihre Teile haben, oder wenn sie dasselbe ist mit ihnen, dann auch auf gleiche Art wie jene erkennbar sein?

Theaitetos: So ist es.

Sokrates: Und damit dies nicht erfolgen möchte, setzten wir, sie sei etwas von ihnen Verschiedenes?

Theaitetos: Ja.

Sokrates: Wie aber, wenn die Buchstaben nicht Teile der Silbe sind, kannst du etwas anderes anführen, was Teil derselben wäre, jedoch nicht die Buchstaben derselben?

Theaitetos: Auf keine Weise, o Sokrates! Denn soll ich einmal Teile von ihr zugeben, dann wäre es lächerlich, die Buchstaben fahren zu lassen und andere aufzusuchen.

Sokrates: Nach dieser Rede also, Theaitetos, wäre die Silbe ganz und gar ein ungeteiltes Wesen?

Theaitetos: So scheint es.

Sokrates: Erinnere dich nun, Freund, daß wir vor nicht gar langer Zeit zufrieden gewesen sind und geglaubt haben, es sei richtig gesagt, daß von dem ersten, woraus das andere bestände, sich keine Erklärung geben ließe, weil jedes nur für sich wäre unzusammengesetzt, und man nicht einmal das »Sein« hinzufügen und mit Recht davon etwas aussagen könne, noch das »Dieses«, weil dies alles schon etwas anderes und Fremdes wäre, und aus dieser Ursache nun war das erste unerkennbar und unerklärbar?

Theaitetos: Ich erinnere mich.

Sokrates: Gibt es nun wohl eine andere als diese Ursache dafür, daß es etwas Einfaches und Unteilbares ist? Ich wenigstens sehe keine andere.

Theaitetos: Es zeigt sich auch wohl keine.

[653] Sokrates: Also fällt die Silbe unter dieselbe Gattung mit jenem, wenn sie keine Teile hat und ein bestimmtes Wesen ist?

Theaitetos: Auf jede Weise.

Sokrates: Ist nun also die Silbe einerlei mit den vielen Buchstaben und ein Ganzes und diese ihre Teile, so müssen auf gleiche Art die Silben erkennbar und erklärbar sein wie die Buchstaben, da die sämtlichen Teile sich einerlei gezeigt haben mit dem Ganzen?

Theaitetos: Freilich wohl.

Sokrates: Ist sie aber eins und unteilbar, so ist auch die Silbe ebensowohl als der Buchstabe unerklärbar und unerkennbar. Denn dieselbe Ursache wird beide zu demselben machen. Theaitetos: Ich weiß nichts anderes zu sagen.

Sokrates: Mit dem also wollen wir es nicht halten, welcher sagt, die Verknüpfung sei erkennbar und erklärbar, der Bestandteil aber sei das Gegenteil.

Theaitetos: Freilich nicht, wenn wir unserer Rede folgen.

Sokrates: Wie aber? Wenn einer das Gegenteil behauptete, würdest du dem nicht lieber beistimmen nach allem, dessen du dir von Erlernung der Buchstaben her bewußt bist?

Theaitetos: Was meinst du?

Sokrates: Daß du beim Lernen nichts anderes tatest als dir Mühe geben, die Buchstaben dem Gesicht nach zu unterscheiden und ebenso auch durch das Gehör jeden einzeln für sich, damit nicht ihre Stellung verwirre, wenn sie gesprochen und geschrieben wurden.

Theaitetos: Vollkommen richtig.

Sokrates: Und bei den Zitherspielern vollkommen gelernt zu haben, heißt das etwas anderes, als jedem Tonfolgen zu können, welcher Saite er angehöre, wovon jeder zugeben wird, daß man es die Urbestandteile der Tonkunst nennen kann?

Theaitetos: Nichts anderes.

Sokrates: Wenn man nun von den Urbestandteilen und Verknüpfungen, deren wir selbst kundig sind, auch auf die andern schließen darf, so werden wir sagen müssen, daß die Erkenntnis der Urbestandteile viel deutlicher sei und viel wirksamer als die der Verknüpfungen, um jegliche Sache vollkommen zu erlernen. Und wenn jemand sagt, die Verknüpfung sei ihrer Natur nach erkennbar, der Urbestandteil aber nicht[654] so wollen wir dafür halten, es treibe Scherz, es sei nun wissentlich oder unwissentlich.

Theaitetos: Offenbar.

Sokrates: Doch hiervon ließen sich noch andere Beweise anführen, wie mich dünkt. Laß uns aber nicht vergessen, unsern vorliegenden Gegenstand hernach zu betrachten, was es doch wohl sagen soll, daß die zu der richtigen Vorstellung hinzukommende Erklärung die vollkommenste Erkenntnis ist!

Theaitetos: So laß uns denn sehen!

Sokrates: Wohlan, in welchem Sinne will er wohl hier eigentlich »die Erklärung« gemeint haben? Eines von dreien nämlich muß er, wie es mir scheint, sagen wollen.

Theaitetos: Von welchen dreien?

Sokrates: Das erste wäre dieses, daß man überhaupt seine Gedanken durch die Stimme vermittelst der Haupt- und Zeitwörter deutlich macht, indem man seine Vorstellung wie im Spiegel oder im Wasser, so in dieser Ausströmung des Mundes ausdrückt. Oder scheint dir dies nicht »Erklärung« zu sein?

Theaitetos: Mir allerdings.

Sokrates: Und von dem, welcher dies tut, sagen wir, daß er sich über etwas erklärt.

Theaitetos: Das sagen wir.

Sokrates: Dies ist nun aber jeder zu tun imstande schnellet oder langsamer, zu äußern, was er von jeder Sache meint, wer nur nicht ganz und gar taub oder stumm ist. Und auf diese Art werden alle, so viele nur etwas richtig vorstellen, auch damit Erklärung verbinden, und es wird also nirgends mehr eine richtige Vorstellung sein ohne Erkenntnis.

Theaitetos: Richtig.

Sokrates: Laß uns aber deshalb nicht leichtsinnigerweise den verurteilen, daß er unrecht habe, welcher von der Erkenntnis die Erklärung gegeben hat, welche wir jetzt untersuchen: Denn wahrscheinlich hat er nicht dieses gemeint, sondern daß, wer gefragt wird, was jedes ist, dem Fragenden nach den Bestandteilen der Sache Rechenschaft geben könne.

Theaitetos: Wie meinst du das, Sokrates?

Sokrates: Wie Hesiodos vom Wagen sagt, die hundert Hölzer des Wagens, die ich freilich nicht zu nennen wüßte, und[655] ich glaube, auch du nicht, sondern wir würden uns begnügen, wenn wir gefragt würden, was ein Wagen ist, daß wir zu antworten wüßten: Räder, Achsen, Obergestelle, Sitz, Joch.

Theaitetos: Jawohl.

Sokrates: Jener aber würde uns, als wenn wir nach deinem Namen gefragt würden und nur silbenweise antworteten, auslachen, daß wir zwar richtig vorstellten und sagten, was wir sagten, uns aber sehr mit Unrecht einbildeten. Sprachkundige zu sein und von dem Namen Theaitetos die sprachkundige Erklärung zu besitzen und zu geben. Mit Erkenntnis aber spreche man nicht eher über etwas, bis man imstande sei, richtigen Vorstellung alles nach seinen ersten Bestandteilen zu neben der beschreiben, wie es auch schon oben irgendwo gesagt worden ist.

Theaitetos: Das ist gesagt worden.

Sokrates: So hätten auch wir zwar eine richtige Vorstellung vom Wagen; wer aber das ganze Wesen desselben nach jenen hundert Hölzern beschreiben könne, der habe, eben weil er dies noch dazu habe, auch noch die Erklärung zu der richtigen Vorstellung und sei anstatt eines bloß Vorstellenden auch ein Kunstverständiger und Wissender in Beziehung auf das Wesen des Wagens, indem er das Ganze nach seinen Bestandteilen durchgehen könne.

Theaitetos: Scheint dir dieses nun gut, Sokrates!

Sokrates: Ob es dir so scheint, Freund, und du annimmst, daß die Beschreibung eines Dinges nach seinen einzelnen Bestandteilen Erklärung sei, die aber nach den nächsten oder nach größeren Verknüpfungen Unerklärtes, dies sage mir, damit wir es in Erwägung ziehen!

Theaitetos: Ich nehme es gänzlich an.

Sokrates: Und glaubst du etwa, daß jemand von etwas Erkenntnis habe, wenn dasselbe bald hierzu ihm zu gehören scheint, bald dazu, oder auch wenn er von demselben Dinge bald dieses vorstellt, bald jenes!

Theaitetos: Beim Zeus, gewiß nicht.

Sokrates: Und erinnerst du dich nicht, daß dieses beim Lernen der Buchstaben dir und andern im Anfange begegnet ist!

Theaitetos: Meinst du, daß wir derselben Silbe bald diesen, bald einen andern Buchstaben zugeschrieben, und denselben[656] Buchstaben bald in die gehörige, bald in eine andere Silbe gesetzt haben?

Sokrates: Eben dies meine ich.

Theaitetos: Dessen erinnere ich mich sehr wohl, beim Zeus, und glaube, daß derjenige bei weitem noch nicht eigentlich weiß, mit dem es sich so verhält.

Sokrates: Wie nun, wenn bei solcher Gelegenheit einer, indem er Theaitetos schreibt, ein Th und ein E schreiben zu müssen glaubt und auch wirklich schreibt; wenn er aber Theodoros schreiben will, ein T und ein E schreiben zu müssen glaubt und auch wirklich schreibt: soll man sagen, daß er die erste Silbe eures Namens wisse.

Theaitetos: Wir haben ja nur eben eingestanden, daß der, mit welchem es sich so verhält, noch nicht wisse.

Sokrates: Hindert nun etwas, daß es ihm bei der zweiten, dritten und vierten Silbe auf ähnliche Art gehe?

Theaitetos: Nicht daß ich wüßte.

Sokrates: Wird er nicht alsdann, die Beschreibung nach den Bestandteilen innehabend, den Namen Theaitetos mit richtiger Vorstellung schreiben, wenn er ihn in der gehörigen Ordnung schreibt?

Theaitetos: Offenbar.

Sokrates: Und dies ohne noch Erkenntnis zu haben, aber richtig vorstellend?

Theaitetos: Ja.

Sokrates: Er hat aber doch die Erklärung nebst richtiger Vorstellung; denn er hatte ja beim Schreiben die ganze Reihe der Bestandteile, welches wir eben Erkenntnis genannt haben.

Theaitetos: Richtig.

Sokrates: So gibt es also, Freund, eine mit der richtigen Vorstellung verbundene Erklärung, welche man noch nicht Erkenntnis nennen darf.

Theaitetos: So scheint es.

Sokrates: Nur im Traume sind wir also reicher geworden, indem wir glaubten, die richtigste Erklärung der Erkenntnis gefunden zu haben. Oder sollen wir noch nicht aburteilen? Denn vielleicht möchte einer die Erklärung nicht so verstehen, sondern nach der noch übrigen von jenen drei Bedeutungen, wovon eine, wie wir sagten, derjenige annehmen müsse, welcher[657] die Erkenntnis beschriebe als eine richtige Vorstellung mit der Erklärung verbunden.

Theaitetos: Ganz recht erinnerst du daran. Denn eine ist noch übrig; die erste war gleichsam ein Bildnis des Gedankens durch die Stimme: das eben Durchgegangene war der Weg zum Ganzen durch die Bestandteile. Was meinst du aber mit der dritten?

Sokrates: Was die meisten sagen würden, daß man könne ein Merkmal angeben, wodurch sich das Gefragte von allen übrigen Dingen unterscheide.

Theaitetos: Was für eine Erklärung kannst du mir in diesem Sinne von irgend etwas geben?

Sokrates: Wenn du willst, würde es dir, glaube ich, z.B. von der Sonne genügen anzunehmen, daß sie das Glänzendste ist von allem, was am Himmel um die Erde geht.

Theaitetos: Vollkommen.

Sokrates: Merke auch recht, weshalb es gesagt ist: Nämlich, wie wir eben sagten, wenn du das Unterscheidende eines Dinges auffassest, wodurch es von den übrigen verschieden ist, so behaupten einige, du habest seine Erklärung aufgefaßt. Solange du aber nur noch etwas Gemeinschaftliches triffst, so würde deine Erklärung auf dasjenige gehn, was zu dieser Gemeinschaftlichkeit gehört.

Theaitetos: Ich verstehe, und es dünkt mich sehr richtig, dieses die Erklärung zu nennen.

Sokrates: Wer also nun bei richtiger Vorstellung von irgend etwas auch seinen Unterschied von dem übrigen aufgefaßt hat, der wird dann Erkenntnis von demjenigen erlangt haben, wovon er vorher nur Vorstellung hatte.

Theaitetos: So behaupten wir freilich.

Sokrates: Jetzt aber, Theaitetos, nun ich zu dem Gesagten näher hinzutrete, verstehe ich, wie bei den großen, auf die Entfernung berechneten Gemälden auch nicht mehr das mindeste davon. Solange ich von ferne stand, schien mir etwas Richtiges damit gesagt zu sein.

Theaitetos: Wieso kommt das?

Sokrates: Ich will es dir deutlich machen, wenn es mir gelingen wird. Vorausgesetzt, ich habe eine richtige Vorstellung von dir, so erkenne ich dich doch nur, wenn ich auch noch[658] deine Erklärung dazu auffasse, wofern aber nicht, so stelle ich dich nur vor.

Theaitetos: Ja.

Sokrates: Deine Erklärung aber war die Bezeichnung deiner Verschiedenheit.

Theaitetos: So war es.

Sokrates: Als ich dich nun nur vorstellte, nicht wahr, so traf ich mit meinen Gedanken nichts von dem, wodurch du dich von andern unterscheidest?

Theaitetos: Es scheint nicht.

Sokrates: Ich dachte also nur etwas Gemeinschaftliches, was du um nichts mehr an dir hast als irgend ein anderer.

Theaitetos: Notwendig.

Sokrates: Wohlan denn, beim Zeus, wie habe ich doch auf diese Art mehr dich vorgestellt als irgend einen andern? Denn setze, ich dächte mir, derjenige wäre Theaitetos, der ein Mensch wäre und Nase, Mund und Augen hätte und so jedes der übrigen Glieder: wird nun dieser Gedanke machen, daß ich mir mehr den Theaitetos denke als den Theodoros, oder, wie man zu sagen pflegt, den letzten der Myser?

Theaitetos: Wie sollte er?

Sokrates: Allein wenn ich mir auch nicht bloß einen Nase und Augen Habenden denke, sondern auch wohl einen Krummnasigen und mit heraustretenden Augen, werde ich dann mehr dich vorstellen als mich selbst und wer sonst noch so beschaffen ist?

Theaitetos: Um nichts mehr.

Sokrates: Sondern nicht eher, glaube ich, wird Theaitetos in mir vorgestellt werden, bis diese Krummnasigkeit selbst ein sie von andern Krummnasigkeiten, die ich auch sehen gesehen, unterscheidendes Merkmal in mir abdrückt und zurückläßt, und so alles übrige, woraus du bestehst, inwiefern dieses mich, auch wenn ich dir morgen begegne, erinnern und machen wird, daß ich mir dich richtig vorstelle.

Theaitetos: Ganz recht.

Sokrates: Also auch die richtige Vorstellung von einem jeden geht schon auf die Verschiedenheit.

Theaitetos: So scheint es ja.

Sokrates: Zur richtigen Vorstellung noch die Erklärung hinzufügen,[659] was hieße das also? Denn heißt dies, sich noch dasjenige dazu vorstellen, wodurch etwas sich von dem übrigen unterscheidet, so ist das ja eine lächerliche Vorschrift.

Theaitetos: Wieso?

Sokrates: Wovon wir schon eine richtige Vorstellung haben, inwiefern es sich von dem übrigen unterscheidet, davon sollen wir nun noch eine richtige Vorstellung hinzunehmen, inwiefern es sich von dem übrigen unterscheidet, und so will alles andere Herumdrehen im Kreise, ohne daß etwas von der Stelle komme, nichts sagen gegen diese Vorschrift. Man könnte es aber mit mehrerem Recht das Zureden eines Blinden nennen: denn uns zureden, daß wir doch nehmen möchten, was wir schon haben, um das zu erfahren, was wir schon vorstellen, – das schickt sich ganz vortrefflich für einen Geblendeten.

Theaitetos: Sprich aber: Was wolltest du vorher noch herausbringen mit deiner Frage?

Sokrates: Daß, wenn auf der andern Seite mit dem Hinzufügen der Erklärung ein Einsehen der Verschiedenheit gemeint wäre, nicht nur ein Vorstellen derselben, – daß es dann eine gar herrliche Sache wäre um diese schönste von den Erklärungen der Erkenntnis, denn Einsehen heißt doch Erkenntnis haben? Nicht wahr?

Theaitetos: Ja.

Sokrates: Wer also gefragt wird, was Erkennen ist, der soll, wie es scheint, antworten: Richtige Vorstellung mit Erkenntnis der Verschiedenheit verbunden. Denn das wäre nun nach jenem das Hinzufügen der Erklärung.

Theaitetos: So scheint es.

Sokrates: Und das ist doch auf alle Weise einfältig, denen, welche die Erkenntnis suchen, zu sagen, sie sei richtige Vorstellung verbunden mit Erkenntnis, gleichviel ob des Unterschiedes oder sonst etwas andern. Weder also die Wahrnehmung, o Theaitetos, noch die richtige Vorstellung, noch die mit der richtigen Vorstellung verbundene Erklärung kann Erkenntnis sein.

Theaitetos: Es scheint nicht.

Sokrates: Sind wir nun noch mit etwas schwanger, Freund, und haben Geburtsschmerzen in Sachen der Erkenntnis? Oder haben wir alles ausgeboren?

[660] Theaitetos: Ich, beim Zeus, habe vermittelst deiner Hilfe sogar mehr herausgesagt, als ich in mir hatte.

Sokrates: Und unsere Geburtshelferkunst hat von diesem allem gesagt, es wären nur Windeier und nicht wert, daß man sie aufziehe?

Theaitetos: Auf alle Weise ja.

Sokrates: Gedenkst du nun, Theaitetos, nach diesem wiederum mit anderem schwanger zu werden, so wirst du, wenn du es wirst, dann Besseres bei dir tragen vermöge der gegenwärtigen Prüfung, – wenn du aber leer bleibst, denen, welche dich umgeben, weniger beschwerlich sein und sanftmütiger, und besonnenerweise nicht glauben zu wissen, was du nicht weißt. Denn nur so viel vermag diese meine Kunst, mehr aber nicht, noch verstehe ich so etwas wie die andern großen und bewunderten Männer von jetzt und ehedem. Diese geburtshelferische Kunst aber ist meiner Mutter und mir von Gott zugeteilt worden, ihr nämlich für die Frauen, und mir für edle und schöne Jünglinge. Jetzt nun muß ich mich in der Königshalle einstellen wegen der Klage, welche Meletos gegen mich angestellt hat. Morgen aber, Theaitetos, wollen wir uns wieder hier treffen.[661]

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