Die Menschen, die vor vielen tausend Jahren lebten, wurden von den gleichen Gefühlen wie heute angetrieben. Sie liebten, hassten, waren verärgert oder empfanden Mitleid. Und sie waren neugierig. Nachts sahen sie am Himmel ein beeindruckendes Schauspiel, das uns heute aufgrund des allgegenwärtigen künstlichen Lichts verborgen bleibt: sie erblickten Planeten und unzählige Sterne, die sich in fester Formation am Himmel bewegten. Die gigantischen Weiten des Kosmos waren überdeutlich.
Doch beim reinen Betrachten des Himmels beließen sie es nicht. Sie versuchten Regeln zu erkennen: Wie verändern sich der Lauf von Sonne und Mond im Verlaufe der Zeit? Welche Zyklen gibt es? Und wie kann man dieses Wissen praktisch nutzen?
Es gibt nur wenige Artefakte, die uns heute in die Lage versetzen das astronomische Denken der prähistorischen Menschen nachzuvollziehen. Eines davon wurde mitten in Deutschland gefunden.
An einem Sommertag im Jahr 1999 zogen zwei Sondengänger los, um auf dem Mittelberg nach wertvollen Gegenständen zu suchen. Die Wahl fiel nicht zufällig auf diesen Ort, sondern er wurde bereits zuvor offiziell als Bodendenkmal eingestuft, also als Landstrich, in dessen Boden sich schützenswerte Kulturgüter befinden.
Die Suche war daher illegal. Die beiden Raubgräber hatten Glück und wurden fündig. Ihr Metalldetektor schlug an, sie machten sich an die Arbeit und bargen die verborgenen Schätze. Dabei gingen sie wenig behutsam vor und beschädigten eine Scheibe, die senkrecht im Erdboden aufgestellt war. Die verschmutzte Platte sah auf den ersten Blick nicht besonders wertvoll aus, fast wie ein langweiliger Blechdeckel. Die beiden Schwerter, die anschließend in den tieferen Schichten zum Vorschein kamen, erregten hingegen in höherem Maße das Interesse der Plünderer.
Kunsthehlerei ist ein schwieriges Metier und so verkauften die beiden die Scheibe für den überschaubaren Betrag von 31.000 DM an einen Zwischenhändler im Rheinland. Der ging ebenfalls grob mit ihr um und säuberte sie mit Stahlwolle, um sie in einen ansehnlichen Zustand zu versetzen. Er konnte den Kunstschatz für 200.000 DM weiterverkaufen und damit einen stattlichen Gewinn verbuchen.
Doch die Polizei war mittlerweile aktiv geworden. In einem langwierigen Verfahren sammelte sie von 2001 bis 2002 genügend Informationen, um in Basel einen Kunsthehler festzunehmen und die Scheibe zu sichern.
Durch den spektakulären Kriminalfall erlangte die Himmelsscheibe von Nebra große Bekanntheit. Doch weit spannender als diese Krimi-Episode ist ihre kulturelle Bedeutung.
Lange Zeit sorgte die Datierung für heiße Diskussionen in der Fachwelt. Doch mittlerweile ist der Blick klarer. Mit chemischen Analysen konnte gezeigt werden, dass die Schwerter und die Scheibe aus einem Hort stammen; und organische Spuren an einem Schwert erlauben wiederum eine C14-Datierung, die ein Alter von ungefähr 3600 Jahren wahrscheinlich macht.
Ihr heutiges Erscheinungsbild erhielt die aufgrund von Korrosion grünschimmernde Bronzescheibe im Verlaufe ihres Gebrauchs in mindestens vier unterschiedlichen Schritten.
Zuerst wurden die Beobachtungen des Nachthimmels festgehalten. Auf der nur 32 Zentimeter großen Scheibe wurden Vollmond und Sichelmond und eine Vielzahl Sterne dargestellt. Allerdings wurde nur ein tatsächlich existierendes Sternbild skizziert: die Plejaden, auch Siebengestirn genannt. Mit guten Augen lassen sich die sieben Lichtpunkte dieser Formation am Nachthimmel ausmachen.[1]
In einer zweiten Phase wurden links und rechts an der Platte zwei goldene Horizontbögen angebracht. Das Gold der Ornamente wird aufgrund seines hohen Silberanteils dem regionalen Bergbau zugeordnet.
Im nächsten Schritt wurde eine Barke am unteren Rand angebracht. Die Zusammensetzung des Materials unterscheidet sich von den älteren Teilen. Aufgrund eines recht niedrigen Silberanteils wurde es vermutlich im heutigen rumänischen Siebenbürgen abgebaut.
Die letzte große Veränderung war das Lochen des Randes.
Im ersten Moment erscheinen die Produktionsphasen der Himmelsscheibe nicht weiter von Interesse zu sein. Doch dahinter verbirgt sich ein Wandel in der Nutzung, sogar eine Revolution im Denken, der mit dem Anbringen des Schiffes geschah.
Anfangs diente die Himmelsscheibe praktischen Zwecken. Der Vollmond und Sichelmond steht zusammen mit den Plejaden für zwei wichtige Tage im Leben bäuerlicher Gesellschaften. Um das zu erschließen, ist Vorwissen erforderlich.
Schwach leuchtende Sterne, wie das Siebengestirn, werden erst am Nachthimmel sichtbar, wenn die Sonne tief unter dem Horizont steht. Hätte die Erde keine Atmosphäre würde sofort nachdem die Sonne hinter dem Horizont verschwunden ist die tiefschwarze Nacht eintreten und damit die Sichtbarkeit der Gestirne optimal sein. Da unser Planet aber in einer dichten Gasschicht gehüllt ist, wird das Licht noch nach dem Sonnenuntergang gebrochen, reflektiert und gestreut und damit die Atmosphäre erleuchtet. Erst wenn die Sonne ungefähr 15 Grad unter dem Horizont steht, ist es dunkel genug, um die Plejaden am Himmel sehen zu können.[2]
Im Verlaufe eines Jahres wandert die Erde um die Sonne und damit verschieben sich von unserem Planeten aus gesehen die Sternbilder am Nachthimmel. Wenn Sternbilder bei diesem Umlauf erstmalig in der Morgen- oder Abenddämmerung in unser Sichtfeld gelangen, spricht man vom Aufgang, wenn sie verschwinden, vom Untergang. Ob das Sternbild morgens oder abends sichtbar wird, hängt mit der Lage im Verhältnis zur Sonne statt. Ist die Reihenfolge Erde-Sonne-Sternbild, kann das Sternbild morgens betrachtet werden, man spricht dabei von heliakischen Auf- oder Untergang. Ist die Reihenfolge hingegen Sonne-Erde-Sternbild, so wird das Sternbild in der Abenddämmerung sichtbar und man spricht von akronychischen Auf- oder Untergang.
Mit diesem Wissen kann nun heraus gefunden werden, was die Himmelsscheibe vermutlich darstellt. In der frühen Bronzezeit gingen die Plejaden in der hellen Zeit des Jahres am Osthimmel auf. Die Sonne gelangte in der Region um Nebra nicht tief genug, um das Siebengestirn sichtbar werden zu lassen. Wenn sie hingegen im Westen standen, war die Beobachtung allerdings möglich. Innerhalb von 2 bis 3 Tagen gingen sie dort unter. Nach heutigem Kalender geschah das im Frühling um den 10. März und im Herbst um den 17. Oktober.
Wenn zum Frühjahrstermin der Mond in Konjunktion mit den Plejaden stand – also der Mond neben dem Siebengestirn am Himmel zu sehen war – konnte er nur als Sichel wahrgenommen werden. Der Grund lag in der Reihenfolge Erde–Mond–Sonne–Siebengestirn, die dazu führte, dass der Beobachter nur die nicht beleuchtete Seite des Mondes sehen konnte. Ein halbes Jahr später ist die Erde auf der anderen Seite ihrer Umlaufbahn um die Sonne angekommen und der Blick Richtung Plejaden findet in der Anordnung Sonne–Erde–Mond–Siebengestirn statt. Also nimmt der Beobachter von der Erde aus den voll beleuchteten Mond wahr.
Diese beiden Daten stehen für wichtige Tage im bäuerlichen Jahr und waren wahrscheinlich schon seit dem Beginn der Jungsteinzeit, also ungefähr 4000 Jahre vor der Erstellung der Himmelsscheibe, bekannt. Das Besondere an dem Fundstück aus dem Mittelgebirge ist, dass zum ersten Mal dieses Wissen auf einer Platte dokumentiert wurde.
Doch das Artefakt verrät noch mehr an astronomischem Wissen. Die nachträglich angebrachten Horizontbögen dienen zur Bestimmung von Sommer- und Wintersonnenwende. Die Bögen markieren einen Winkel von 82 Grad und entsprechen damit genau dem Winkel, den die Sonne im Verlaufe des Jahres auf der geographischen Breite Nebras überstreicht. Die Anwendung ist einfach. Auf dem Mittelberg stehend wird der obere Rand des linken Bogens auf den höchsten Berg der Region, den Brocken, ausgerichtet. Am Tag der Sommersonnenwende geht das Zentralgestirn genau hinter dem Brocken unter. Das heißt, auf der Scheibe kann sie auf der Linie vom oberen Teil des linken Horizontbogens bis zum unteren Teil des rechten Bogens gesehen werden. Zur Zeit der Wintersonnenwende geht die Sonne auf der Linie vom unteren Teil des linken Bogens bis zum oberen Teil des rechten Bogens unter.
Mit dem Anbringen des Schiffs auf der Himmelsscheibe erhält die Scheibe eine neue Bedeutung: sie wird von einem astronomischen Hilfsmittel zu einem Kultgegenstand. Die älteren Symbole auf der Himmelsscheibe sind alle schon in der jungsteinzeitlichen Vorstellungswelt zu finden. Die Barke steht hingegen für neu aufkommende, bronzezeitliche Religionen. Wahrscheinlich stammten die neuen Kulte aus Skandinavien. In der nordischen Lebenswelt mit den Meeren, Fjorden und Inseln nahm das Schiff eine wichtige Rolle ein. In der Bronzezeit wurden die wertvollen Metalle Kupfer und Zinn aus den hunderte von Kilometern entfernten Bergwerken im Süden auf dem Seeweg nach Dänemark, Schweden und Norwegen transportiert. Schiffe standen daher für Macht und Reichtum. Die große Bedeutung wurde in der Symbolik der Mythen aufgenommen. Das Schiff als Helfer der Sonnenreise war ein immer wiederkehrendes Motiv.
Auf Abbildungen von Rasiermessern aus der späten nordischen Bronzezeit lassen sich weitere Hintergründe zur kosmologischen Rolle des Schiffes gewinnen. Möglicherweise wurden dabei mythische Ideen aus Ägypten aufgenommen. Das heißt allerdings nicht, dass Ägypter und Nordländer in direkten Kontakt zueinander gestanden haben müssen.
Diese Kulte waren in weiten Teilen Europas verbreitet. Funde, wie die Himmelsscheibe von Nebra, zeigen, dass diese Vorstellungen auch außerhalb Skandinaviens existierten.
Ihre letzte Veränderung erfuhr die Himmelsscheibe durch die Lochung des Randes. Das lässt darauf schließen, dass die Scheibe entweder auf Holz oder anderen Materialien befestigt wurde und als eine Art Banner diente.
Die Rekonstruktion der Vorstellungswelten in der prähistorischen Zeit ist eine schwierige Aufgabe. Es gibt keine schriftlichen Zeugnisse, die unmissverständlich das Wissen der Epoche darlegen. Doch die Artefakte und Kunstwerke sprechen ihre eigene Sprache und sie verraten, dass die Menschen schon mindestens seit der Jungsteinzeit sich mit den Gestirnen am Himmel beschäftigten und das Wissen auch praktisch zu nutzen wussten.
Besser wird die Informationslage mit der Entstehung der ersten Schriftkulturen. Noch bevor die griechischen Städte in der Antike zur Blüte gelangten, entstanden in Nordafrika und Vorderasien Hochkulturen, die über entwickelte Weltbilder verfügten. Aus astronomiegeschichtlicher Sicht lohnt sich vor allem der Blick auf das Zweistromland, das im heutigen Irak und Syrien liegt.
[1] Diese Darstellung ist allerdings vereinfacht. Die moderne Astronomie kann mit ihren technischen Mitteln ca. 1200 Sterne ausmachen, die zu den Plejaden gezählt werden. Aber auch mit bloßen Augen sind es nicht unbedingt sieben Sterne, die gesehen werden können. Der siebthellste Stern, Pleione, schwankt in seiner Hellligkeit und kann mal gesehen werden und mal nicht. Bei besonders guten Sichtverhältnissen können sogar neun Sterne ohne Hilfsmittel gesichtet werden.
[2] Die eigentliche Nacht beginnt erst, ab einen Winkel von 18 Grad unter dem Horizont. Die Dämmerung wird in drei Phasen eingeteilt: die bürgerliche Dämmerung bis 6 Grad, die nautische Dämmerung bis 12 Grad und die astronomische bis 18 Grad.
Weiteres:
TerraX-Sendung zur Himmelsscheibe
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